Flirty Horse: Im Gallop durch die Welt der Kunst

 von Mona May

Wenn die Kunst zum Medium des Menschseins wird und sie einen Namen hätte, dann hieße sie wie diese beiden: Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin. Wenn Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, nun fragen, wer diese beiden Künstler denn sind, dann freue ich mich sehr, Ihnen heute eine Antwort darauf geben zu können. Zumindest will ich es versuchen, aber ich weiß natürlich, dass mir das nur in Ansätzen gelingen können wird. Seit ungefähr zwei Wochen beschäftige ich mich täglich intensivst mit den beiden Künstlern und ihrem Art Collective Flirty Horse, ich suche nach Anhaltspunkten und nach Worten, wie ich sie am besten beschreiben und vorstellen kann. Ich lese und überarbeite das Interview der beiden, aber mein Blatt bleibt leer.

Und dann sehe ich diesen Trailer von „Das Solo der vergewaltigten Geige“, alleine wie Ivan Strelkin das Ausbreiten seiner Arme zelebriert – als wären es Vogelschwingen, um sie dann wieder zitternd einsinken zu lassen. Und es und er flirrt, bebt und lebt und vibriert: Und es bewegt mich zutiefst! In seiner Elementarität und Schlichtheit. Und es macht „Klick“ bei mir, so als hätte ich verstanden, was sie uns im Interview sagen und schenken wollen. Und nun wollen die Worte über Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin raus.

Ihr umfangreiches Kunstschaffen ist nämlich nicht nur vielgestaltig und vielschichtig, ihre Werke sind nicht nur multidimensional, komplex und von einer fast erschütternden Ehrlichkeit – vor allem sich selbst gegenüber, nein, sie scheinen auch von einer anderen Welt zu kommen, von einer geistigen Dimension und einer intensiven Auseinandersetzung mit den Dingen, die nur hinter dem Sichtbaren zu finden sind. So als würden die beiden über die Fähigkeit verfügen mit anderen Ebenen kommunizieren zu können. Ihr Leben und ihre Beziehung sind untrennbar mit der Kunst verbunden.

Sie sind als Künstler Forscher und Forscherin: Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin dringen in ihren Denkprozessen in eine schwindelerregende Tiefe vor, durchleuchten, zerpflücken und untersuchen jedes Detail und jeden Winkel des individuellen, wie des kollektiven Menschseins. Dabei machen sie sich oft selbst zum „Untersuchungsgegenstand“ ihrer Kunst. Es geht ihnen aber nicht darum zu schockieren oder zu provozieren, sondern darum emotionale und intellektuelle Erkenntnisprozesse auszulösen. Nicht nur bei ihrem Publikum, sondern auch bei sich selbst. Ihre Arbeiten drehen sich niemals darum, das Trennende hervorzuheben – es sei denn, um das Verbindende zu finden. Sie differenzieren punktgenau und machen doch keinen Unterschied, denn sie sind davon überzeugt, dass das, was uns alle verbindet, das Menschsein schlechthin ist. 

Sie sind viel herumgekommen und bei vielen Festivals aufgetreten, ob in Graz, Wroclaw, Karlovac, Linz, Wien oder so wie Kasija Vrbanac Strelkin, die als Mitglied der TANZLINZ Tanzkompanie in dem Stück „Macbeth“ von Johann Kresnik bei Impulstanz tanzte – sie waren überall gern gesehene und gefeierte Gäste. Und vor ungefähr zweieinhalb Jahren sind sie glücklich in Wien gelandet und konnten hier Fuß fassen.  Anfang 2020 haben sie, während der Corona Pandemie, das Art Collective Flirty Horse gegründet. Ein Name, der die Fantasie beflügelt, der etwas vorgibt und doch vieles offen lässt. Darüber werden wir von Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin im Interview-Teil noch mehr erfahren, ebenso wie über ihr Leben und ihre Zugänge zum Kunstschaffen.

Übrigens: Ich kann das neue Stück von Ivan Strelkin nur empfehlen. Die Uraufführung des Stückes „Das Solos der vergewaltigten Geige“ steht kurz bevor: es ist am 01.03 und am 02.03.2024, jeweils um 19h30 im Spektakel in Wien zu sehen.

Das Interview

Hallo Ivan, Hallo Kasija, ich freue mich sehr, euch heute interviewen und näher kennenlernen zu dürfen. Die ersten Fragen beziehen sich auf euren biografischen Background und darum möchte ich euch auch gleich bitten mir zu verraten, wann und wo ihr das Licht der Welt erblickt habt?

Kasija: Also ich wurde am 16. Februar 1993 in Kroatien in einer kleinen Stadt namens Karlovac geboren.

Ivan: Und ich bin 1988 in Russland, in St. Petersburg, geboren. Ich habe Russland vor mehr als zehn Jahren im Alter von fünfundzwanzig Jahren verlassen.

Wie waren eure familiären Verhältnisse, seid ihr beide mit Geschwistern aufgewachsen und wer sind und wie waren eure Eltern?

Ivan: Meine Eltern sind beide schon im Ruhestand, ich war ein sogenanntes spätes Kind. Meine Mutter ist jetzt siebzig und mein Vater sechsundsechzig Jahre alt. Meine Mutter war Krankenschwester. Als ich klein war hat sie in einem Krankenhaus im Empfangsraum gearbeitet und später in einer Ambulanz.  Mein Vater hat Ausbildungen im Journalismus und im Management, er hat im Laufe seines Lebens oft die Berufe gewechselt, aber die letzten Jahrzehnte vor seiner Pensionierung arbeitete er in einer Bank. Beide haben nicht wirklich etwas mit Kunst zu tun. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen, aber ich habe einen Halbbruder – den Sohn meines Vaters aus seiner ersten Ehe. Allerdings haben wir schon seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr.

Kasija: Ich habe auch einen Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters. Sein Name ist Aljoša. Er ist zwölf Jahre älter als ich und Informatiker. Aljoša lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einer kleinen Stadt in der Nähe von Zagreb. Da wir nie zusammen gelebt haben, nicht einmal in derselben Stadt und wegen des großen Altersunterschieds hat sich keine besonders enge Bruder-Schwester-Beziehung zwischen uns entwickeln können. Wir haben uns meist nur an wichtigen Tagen wie Weihnachten, Ostern und Geburtstagen gesehen, wenn die Familie mit Essen und Geschenken zusammengekommen ist. Obwohl Aljoša und ich im Laufe unseres Lebens nicht viele Gelegenheiten hatten uns näher zu kommen, hat sich das, seit wir erwachsen sind, sehr verändert, Ich habe das Gefühl, dass wir sehr stark miteinander verbunden sind, denn obwohl wir nicht einmal im selben Land leben, sind wir irgendwie füreinander da.

Meine Eltern heißen Vera und Dorijan, die beiden sind in Karlovac geboren und aufgewachsen und sie leben immer noch dort. Ursprünglich lernten sie sich bei der Arbeit im selben Wasserversorgungsunternehmen kennen, aber sie hatten beide größere Träume und Visionen für die Zukunft. Mein Vater investierte seine gesamte Freizeit und sein Geld in die Ausbildung zum Piloten und meine Mutter besuchte Tanzkurse. Als ich geboren wurde, war mein Vater schon Vollzeitpilot, was er bis zu seiner kürzlichen Pensionierung blieb. Und meine Mutter eröffnete 1988 im Alter von dreiundzwanzig Jahren das erste Tanzstudio in der Stadt Karlovac und nannte es Studio 23. Im Grunde genommen repräsentieren meine Eltern zwei völlig verschiedene Welten. Mein Vater ist ein echter Kämpfer und adrenalinsüchtig: er ist Pilot, Taekwondo-Trainer, Diving-Lehrer, fährt Motorrad, baut ein Haus und noch vieles mehr. Ihm ist wichtig, dass immer etwas passiert, irgendeine Art von Aktion oder Arbeit.

Meine Mutter ist das pure Gegenteil, sie ist Zen, unterrichtet Tanz, liest Unmengen von Büchern, malt Bilder auf Möbel und Wände, praktiziert Reiki und meditiert. Sie befindet sich in einem spirituellen Zustand des Seins.

Die Beziehung meiner Eltern ist auch ein wenig ungewöhnlich. Sie trennten sich, als ich etwa sieben Jahre alt war. Da sie sich aber um mich kümmern mussten und beide an meinem Leben teilhaben wollten, gelang es ihnen, ein gutes Verhältnis zueinander zu bewahren.

Fast zwanzig Jahre lang lebten sie unabhängig voneinander ihr eigenes Leben und trafen sich nur manchmal. Aber dann, vor ein paar Jahren, als die Pandemie begann, verbrachten sie immer mehr Zeit miteinander, woraus sich eine neue Art von Beziehung zwischen ihnen entwickelte, die sehr eng und intim ist.

In gewisser Weise sind sie immer die wichtigsten Menschen füreinander geblieben und jetzt teilen sie einen neuen Teil ihres Lebens.

Danke für diesen Einblick in eure Herkunftsfamilien, der mich zu meiner nächsten Frage führt: Wie waren die sozialen Bedingungen unter denen ihr großgeworden seid?

Kasija: Ich wurde mitten in den serbisch-kroatischen Krieg hineingeboren. Das war eine harte und komplizierte Zeit. Schon an dem Tag, an dem ich geboren wurde, gab es roten Alarm und alle mussten sich in den Bunkern verstecken. Karlovac wurde während des Krieges generell stark angegriffen und bombardiert, sodass meine Mutter mich als Baby und unseren Hund oft in den Keller des Gebäudes bringen musste. Mein Vater hingegen war als Pilot vom ersten bis zum letzten Tag im Krieg, das heißt, er war mehr oder weniger fünf Jahre lang abwesend.

Wie jeder Krieg beeinflusste und bestimmte auch dieser unser aller Leben und die allgemeine Atmosphäre, in der ich aufwuchs. Die Nachkriegszeit ist nicht die einfachste und glücklichste, das Land ist politisch und wirtschaftlich instabil, es herrscht Armut, die Städte sind zerstört, und die Menschen sind voller Schmerz, Angst und Wut. Es war sehr wichtig der „richtigen“ Ethnie anzugehören, die „richtige“ Sprache zu sprechen, die „richtige“ Religion zu haben und alle Beziehungen zu dem zu verweigern, was als Feind angesehen wurde.

Dieser Wechsel von der Zugehörigkeit zu einem großen und einigermaßen wichtigen Land wie Jugoslawien zu einem freien und unabhängigen, aber auch sehr kleinem und durch den Krieg stark beschädigtem Land, gab mir das Gefühl in einem sehr isolierten, nicht entwickelten und abgeschnittenen Teil der Welt aufzuwachsen. Ich empfand meine Umgebung als schwer, traurig, frustriert und korrumpiert, durchdrungen von einem kollektiven Trauma, von dem es lange dauern wird, sich zu erholen.

In gewisser Weise hatte ich vielleicht das Glück, dass meine Großmutter Slowenin, mein Großvater Serbe und mein Vater Kroate war, so dass Feindseligkeit gegenüber anderen in meiner Familie nicht vorkam. Außerdem hatten meine Eltern einen erweiterten Horizont und eine Weltanschauung, die es mir ermöglichte, mich für verschiedene Dinge und Interessen zu öffnen und schließlich im Ausland zu leben.

Ivan: Meine Heimatstadt St. Petersburg ist eine ziemlich große Stadt, zwei oder sogar zweieinhalb Mal größer als Wien. In den 1990er Jahren durchlief das Land eine gewaltige Wirtschaftsreform, die Sowjetunion war gerade zusammengebrochen, 1991 und 1993 gab es Putsche, Panzer schossen auf das Parlamentsgebäude in Moskau, ein albtraumhafter Ausbruch von Kriminalität, man konnte ohne Probleme eine Waffe oder eine Granate auf einem Flohmarkt kaufen.

Ich erinnere mich nicht mehr an viel, weil ich ja noch sehr klein war, aber ich kann mich erinnern, dass unsere Familie sehr arm war. Meine Mutter arbeitete in Nachtschichten im Krankenhaus, mein Vater war arbeitslos und immer auf der Suche nach einem Job. Er nahm verschiedene Gelegenheitsjobs an, wie zum Beispiel als Verlader im Lebensmittelladen im Erdgeschoss unseres Hauses.

Ich weiß noch, dass wir den Geburtstag meines Vaters mit einem Schokoriegel „Nuts“ feierten – mehr konnten wir uns nicht leisten. Ich bin im Grunde genommen in Armut aufgewachsen, aber irgendwie habe ich keine düsteren Erinnerungen an diese Zeit – ich war ja klein, und außerdem hatte ich nichts, womit ich mich vergleichen konnte. Das war eben von Anfang an so – es gab kein Geld für Spielzeug oder Süßigkeiten usw., das war für mich aber normal.

Mein Vater hat mir sehr früh das Lesen beigebracht, mit vier Jahren konnte ich schon fließend lesen und so habe ich viel Zeit mit Büchern verbracht und dann mit Lernen. Meine Eltern wechselten mehrmals die Wohnung und so kam es, dass ich vier Schulen wechselte. Die letzte, auf der ich meinen Abschluss gemacht habe, war eine Privatschule, auf der ich kostenlos gelernt habe, weil ich das Stipendium für begabte SchülerInnen gewonnen habe.

Das war eine tolle Erfahrung. Diese Schule hatte ein sehr europäisches Flair und war den drei anderen Schulen, an denen ich zuvor gelernt hatte, sehr unähnlich: Unsere Klasse bestand aus nur dreizehn SchülerInnen, der Durchschnitt einer staatlichen Schule in Russland liegt bei fünfundzwanzig bis dreißig SchülerInnen.

Das Programm umfasste interessante Fächer wie Marketing und Kunstgeschichte, was in Russland auch nicht gewöhnlich ist und die LehrerInnen waren eher wie UniversitätsdozentInnen, denn sie behandelten uns mit Respekt und kümmerten sich um uns.

Diese Zeit, Anfang der 2000er Jahre, war viel besser, sicherer, wohlhabender – mein Vater bekam einen Job in der Bank. Und auch allgemein erholte sich das Land vom Schock der 90er Jahre, die Gesichter der Passanten auf den Straßen wurden heller und glücklicher.

Unmittelbar nach der Schule, im Alter von siebzehn Jahren, begann ich ein Bachelor-Regiestudium an der St. Petersburger Akademie für Theaterkunst. Damit begann mein Leben in und mit der Kunst.

War es in euren Familien Usus sich mit Kunst zu beschäftigen und gab es noch andere „professionelle“ Künstler*innen? Wenn ja: Wer war das und welche Kunst übten sie aus?

Kasija: Ja, wie ich schon erzählt habe, im Leben meine Mutter war der Tanz immer eine treibende Kraft. In ihrem Studio unterrichtete sie viele verschiedene Arten von Tanztechniken wie Aerobic, Jazz und zeitgenössischen Tanz.

Über die Jahre begann sie auch Pilates zu unterrichten, was sie auch heute noch tut. Das Studio 23 war und ist immer noch ein wichtiger Ort in der Stadt. Hunderte von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben dort irgendwann in ihrem Leben getanzt, sogar mein Halbbruder – für ein paar Saisons.

Meine Mutter ist nicht nur Tänzerin und Tanzlehrerin, sondern sie schreibt auch. Mir gefällt sehr gut, was sie schreibt und auch die Art und Weise, wie sie es tut. Es ist eine Art Langzeit-Tagebuch, in dem sie ihre Gedanken und Reflexionen über die Ereignisse in ihrem Leben niederschreibt und in dem sie sich zu den Problemen und Kontroversen im öffentlichen Raum der Stadt, in der sie lebt, äußert. Diese Texte sind privat und sozial, poetisch und aktivistisch, zerbrechlich, aber auch scharf und gewagt.

Auch wenn sie die Kunst nie in einem vollprofessionellen Sinne verfolgt hat, ist Vera eine wahre Künstlerseele, die einen Weg findet, künstlerische Ansätze mit allem, was sie tut, zu verbinden. Als ich mit ihr aufgewachsen bin, hatte ich das Gefühl, dass alltägliche Dinge zu einer Art künstlerischem Ritual werden können, wie zum Beispiel sich um den Haushalt zu kümmern, Essen zuzubereiten usw. und sogar die Art und Weise, wie wir mit anderen kommunizieren.

Ivan: In meinem Fall lautet die Antwort „nein“ oder „nicht wirklich“, es gab keine professionellen Künstler in unserer Familie.

Mein Vater wollte zwar immer Schriftsteller werden, aber sein Leben nahm einen anderen Verlauf. Schließlich schrieb er mehrere Bücher in einem ganz bestimmten Genre, eine wilde Mischung aus Belletristik, New-Age-Psychologie und seinen Gedanken und Betrachtungen über das Neue Testament.

Ich verdanke meinem Vater meine Liebe zur Literatur, denn als ich ein paar Monate alt war, klebte er kleine Kärtchen mit Buchstaben an die Wände der Wohnung, damit ich mich von der Wiege an an sie gewöhne.

Deshalb habe ich auch so schnell lesen gelernt und konnte schon viele Bücher lesen, bevor ich in die erste Klasse kam. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich angefangen habe, meine eigenen Sachen zu schreiben, aber er hat mich immer dazu ermutigt, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

Wann und wie habt ihr konkret bemerkt, dass es euch zur Kunst zieht – speziell zum zeitgenössischen Tanz, zum Schauspiel und zur Regie?

Kasija: Es gibt eigentlich keinen einzigen Moment in meinem Leben, der ohne Tanz und Kunst war. Als ich noch in Mamas Bauch war, hat sie Tanzunterricht gegeben und sobald ich laufen konnte, habe ich angefangen Tanzstunden im Studio zu nehmen. Das Studio 23 ist der Ort, an welchem ich im Grunde genommen aufgewachsen bin – ich habe das Gefühl, dass sich der wichtigste Teil meiner Kindheit genau dort abgespielt hat.

Ich war immer bei ihr, entweder beim Training oder schlafend in irgendeiner Ecke des Studios, während sie den Unterricht beendete. Ein Haufen Kinder, die wild herumspringen, rennen und tanzen; Gruppen, die im Studio ein- und ausgehen; laute Musik; meine Mutter oder eine andere Lehrerin, die versucht, das freudige Schreien und Lachen der Kinder zu übertönen; das Einstudieren und Üben verschiedener Choreografien; das gemeinsame Reisen in überfüllten Bussen zu verschiedenen Wettbewerben und Festivals; das Verbringen ganzer Tage in großen Hallen voller Tanzgruppen. Dies sind meine glücklichen Erinnerungen und Erfahrungen, die den Tanz zu einem untrennbaren Teil meines Wesens gemacht und meine weiteren Lebensentscheidungen geprägt haben.

Als es an der Zeit war, zu entscheiden, was ich nach der High School machen wollte, fühlte ich mich ziemlich verloren und unsicher, da ich mich nicht zu den „normalen“ Berufen hingezogen fühlte. Zu dieser Zeit gab es in Kroatien keine Tanzakademie und als ich im Gymnasium sagte, dass ich professionelle Tänzerin werden wollte, stieß ich auf viel Kritik und Skepsis. Aber meine Mutter fand heraus, dass es in Ljubljana eine neu eröffnete Tanzakademie gibt und meinte, dass diese vielleicht interessant für mich sein könnte. Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie mir in diesem Moment geholfen hat und mir die Möglichkeit eröffnete, dass der Tanz eine Vollzeitbeschäftigung sein kann und dass ich das Leben der Kunst als meinen Weg wählen kann.

Ivan: Wie ich bereits erwähnt habe, gab es bei uns zu Hause immer Literatur, wir hatten viele Bücher, einige Hundert, also war sie von frühester Kindheit an ein Teil meines Lebens.

Meine erste Begegnung mit dem Theater fand statt, als ich in der 9. Klasse war, ich spielte in einer Schulaufführung mit. Es war „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ von Max Frisch. Ja, in der Tat, das war eine sehr unerwartete Stückwahl für ein Schultheater. Ich verstand damals nicht viel vom Leben und schon gar nicht von den Themen des Stücks, aber es machte mir Spaß, ein Kostüm zu tragen, ein Schwert zu halten und schöne Sätze zu sagen.

Im nächsten Jahr spielte ich eine andere Rolle, die Hauptrolle, es war auch ein großes Stück mit dem Titel „Der ältere Sohn“, von Wampilow, einem sowjetischen Autor.

Irgendwie war das Theater für mich nie eine Wahl. Es war einfach da – irgendwie und immer. Hunde werden mit dem Wunsch geboren einem Ball hinterherzulaufen. Sie lernen es nicht, sie erben es, sie sind einfach so veranlagt und irgendwann entdecken sie es in sich selbst. Ich glaube, ich habe mir auch nichts ausgesucht.

Meine Eltern haben meine Idee, ein professioneller Künstler zu werden, nicht ernst genommen. Mein Vater sagte wortwörtlich: „Deine Idee, Theater zu studieren, ist eine Tragödie für uns.“

Ja, wir haben uns deswegen viel gestritten. Außerdem zahlten sie mir eine beträchtliche Summe, damit ich einen Vorbereitungskurs für den Fachbereich Soziologie an der staatlichen Universität besuchte, aber ich habe diesen Kurs überhaupt nicht besucht. Stattdessen bin ich heimlich in die öffentliche Bibliothek gegangen, um dort Theatergeschichte für die Aufnahmeprüfung für ein Bachelor-Studium in Regie zu studieren.

Meine Eltern wissen bis heute nichts davon. Es war natürlich sehr beängstigend, denn die Verantwortung lag allein bei mir, die Konkurrenz war etwa zweihundert Leute pro Platz. Falls ich durchgefallen wäre, hätte ich zum Militärdienst gehen müssen. Das war eine sehr unangenehme Aussicht und als Wendung von mir wirklich ungewollt, denn der Militärdienst in Russland ist eine Abteilung der Hölle auf Erden, die junge Menschen bricht und sie für Jahrzehnte traumatisiert. Dieses Risiko bestand also. Aber irgendwie habe ich das Auswahlverfahren bestanden und wurde an der Universität angenommen.

Mit dem Tanz war es anders, ich beschloss mit siebenundzwanzig Jahren meine Karriere zu erweitern. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich etwas Neues brauche, etwas, von dem ich buchstäblich keine Ahnung hatte und mich herausforderte. Und so gab ich meinen gut bezahlten Job in Tallinn auf und ging nach Deutschland, um dort Tanz zu studieren.

Könntet ihr in Bezug auf eure Ausbildungen noch etwas mehr ins Detail gehen, es würde mich auch intersierren, welche Vorbilder euch prägten und ob es Lehrer*nnen gab, die für euch wegbestimmend waren?

Kasija: Sehr gerne, meine erste künstlerische Ausbildung absolvierte ich an der Tanzakademie in Ljubljana, wo ich 2014 mein Bachelor-Diplom in Tanz und Choreografie erwarb. Nachdem ich einige Jahre als Tänzerin gearbeitet hatte, schrieb ich mich für den Masterstudiengang für Bewegungsforschung an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz ein, den ich 2021 abschloss.

Das mit den Vorbildern und wichtigen LehrerInnen ist eine interessante Frage, denn ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Leben viele davon hatte und dass ich mich sehr leicht von Menschen in meinem Umfeld inspirieren und motivieren lassen kann. Ich kann mich an sehr viele verschiedene Situationen oder Dinge erinnern, die einige LehrerInnen gesagt haben, die in mir tiefe Denkprozesse auslösten. Und ich kann viele Beispiele dafür finden, bei denen ich bestimmte Fähigkeiten meiner KollegInnen sehr bewunderte.

Aber in diesem wahren Sinne, was Vorbilder sind, gibt es einige Menschen, die nichts mit dem Tanz zu tun haben und einige nicht einmal mit der Kunst, sondern mit dem Leben im Allgemeinen. Zum Beispiel hat der Filmregisseur David Lynch meinen künstlerischen Geschmack sehr beeinflusst.

Ich fühle mich nicht nur mit dem künstlerischen Universum seiner Filme verbunden und kann viel von ihm lernen, sondern ich habe auch eine enge Beziehung zu seiner Philosophie und seiner Herangehensweise an das Kunstschaffen. Für ihn sind kreative Ideen alles, sie bestimmen das Ausdrucksmittel, das er wählt. Er ist also nicht nur ein Regisseur, sondern auch ein bildender Künstler und Musiker. Ich bin da sogesehen ähnlich, indem auch ich verschiedene künstlerische Medien verwende, je nachdem welchen Impuls, welche Idee oder Vision ich habe. Manchmal sind das Tanz und Choreografie, oft aber auch das Schaffen von Skulpturen, Malerei, das Filmen und Schneiden von Videos usw.

Die zweite wichtige Person ist Alan Watts. Das Anhören seiner Vorträge und Reden hatte eine transformierende Wirkung auf mich. Sie öffneten mich für ein spirituelleres Verständnis der Existenz und ließen mich die Zusammenhänge zwischen allen Dingen erkennen. Diese Weltanschauung hat mir nicht nur geholfen viele schwierige persönliche Situationen zu überwinden, sondern hat auch die Art und Weise, wie ich an das Kunstschaffen und die künstlerischen Prozesse herangehe stark beeinflusst.

Ivan: Ich habe von meiner Akademie in St. Petersburg zwei Bachelor Abschlüsse, einen in Schauspiel und den anderen in Regie und zwei Master Abschlüsse: in Choreographie an der Folkwang Universität in Essen (D) und in Bewegungsforschung an der Anton Bruckner Privat Universität in Linz (A).

Die Theaterakademie war eine klassische Theaterausbildung, am ehesten vergleichbar mit dem Max Reinhardt Seminar in Wien. An der Folkwang habe ich gelernt, mich zu bewegen, ich habe viel Ballett und alten deutschen Moderntanz trainiert, Joos/Leeder-Technik, wir hatten dort auch tolle Workshops, die von Leuten aus der Akram Khan Company und Batsheva geleitet wurden, und von TänzerInnen, die mit Pina Bausch gearbeitet haben. Es war wirklich ein Vergnügen und eine Freude, drei Jahre in Essen-Werden zu verbringen, diesem kleinen, idyllischen Universitätsdorf voller StudentInnen und reicher deutscher RentnerInnen.

Die Bruckner-Uni war eine weit weniger spektakuläre Erfahrung, denn drei Viertel des Studiums fielen genau in die Zeit der Corona-Pandemie.

Wir saßen also in einem 14m2 großen WG-Zimmer und versuchten die DozentInnen durch ein ZOOM-Fenster zu verstehen. Aber ich lernte Kasija kennen und wir gründeten gemeinsam „Flirty Horse“; das ist wahrscheinlich der wahre Grund, warum ich 2019 in Linz gelandet bin. Außerdem habe ich in Linz meine akademische Master-Thesis geschrieben, meinen ersten wissenschaftlichen Text.

Aber zu LehrerInnen jeglicher Art hatte ich schon immer ein kompliziertes Verhältnis, das ist mein Triggerpunkt, der durch traumatische Erfahrungen entstanden ist. Es ist schwer für mich in der Kunst die Position eines Schülers einzunehmen. Einige meiner LehrerInnen fand ich zu konservativ und ich konnte ihren Urteilen nicht trauen. Einige andere reagierten nicht sehr sensibel auf meine Arbeit und ich sah mich gezwungen sie mit mir zu konfrontieren, um meine Individualität zu bewahren. Einmal in meinem Leben ließ ich mich wirklich von einem Lehrer leiten, was ich aber sehr bereut habe, denn es ist leider nichts Gutes dabei herausgekommen.

Es gibt jedoch große KünstlerInnen, die mich sehr beeinflusst haben, ich bewundere sie als schöne und inspirierende SchöpferInnen. Zu den in Europa bekannten Namen gehört die belgische Theatergruppe „Peeping Tom“ – ihre Produktion „MOTHER“ ist die berührendste Aufführung, die ich je gesehen habe. Meine Lieblingschoreografin ist Sharon Eyal, ich bin auch sehr inspiriert von Ohad Naharin und der Bewegungssprache von GAGA. Natürlich hat Pina Bausch eine große Rolle in meinem Leben gespielt, während meines Studiums an der Folkwang Uni kam ich ihrem Erbe sehr nahe. Wir wurden von den TänzerInnen ihrer Company unterrichtet und ich fuhr mehrmals nach Wuppertal, um ihre Stücke zu sehen, die dort immer noch aufgeführt werden.

Ivan du hast ja vorhin erwähnt, dass du Kasija in Linz kennengelernt hast, wann und wo war das und seid wann seid ihr ein Paar?

Kasija:. Ivan und ich haben uns im September 2019 kennengelernt. Es war gleich zu Beginn des Semesters, wir hatten uns beide für denselben Masterstudiengang eingeschrieben.

Wenn uns wer fragt, sagen wir immer: „Wir haben uns bei der Kaffeemaschine kennengelernt“ und so war es auch.

Am ersten Studientag war ich auf dem Weg zu dem Studio, in dem unsere Vorlesung stattfinden sollte. Als ich um die Ecke des Ganges bog, stand er neben der Kaffeemaschine: ein sehr großer, dünner, aber kräftiger Mann mit Glatze, der versunken in sich selbst ruhte und tanzte. Ich war fasziniert!

Ivan: Ja, wir trafen uns in Linz, der unromantischsten Stadt der Welt und zwar bei einem Kaffeeautomaten. Kasija hatte sehr lange Haare, mehr als einen Meter Haare, würde ich sagen. Und ja, meinen Kopf hatte ich damals tatsächlich kahl rasiert. Kasija warf die Münzen in den Automaten und ich tat so, als wollte auch ich einen Kaffee kaufen, dabei fragte ich sie, wie sie heißt. Unsere Beziehung begann sofort, aber es ist schwer zu sagen, wann genau wir ein Paar wurden, denn wir hatten einen holprigen Start.

Kasija: Ja, am Anfang war das alles ziemlich spontan und unbestimmt.

Ivan: Und in weniger als einem halben Jahr schlug dann die Pandemie zu und wir landeten gemeinsam in der Quarantäne. Das war auch eine unglaublich herausfordernde Zeit. Aber in diesen Monaten der Isolation gründeten wir „Flirty Horse“ und ein Jahr später haben wir geheiratet. Überall mussten noch die Corona-Regeln eingehalten werden und in Kroatien durften am Standesamt bei unserer Trauung nur acht Gäste anwesend sein.

Kasija: Nach nur einem Jahr und drei Monaten habe ich Vanja gefragt, ob wir vielleicht heiraten wollen. Das kam sehr unerwartet, aber er hat ohne zu zögern sofort ja gesagt. Und wir beschlossen, so schnell wie möglich zu heirateten. Unsere Hochzeit fand in Kroatien, mitten im größten Lockdown, statt. Es war kaum zu schaffen alle Papiere von der Botschaft zu erhalten, dann noch einen russischen Übersetzer zu finden und sogar einen Termin im Standesamt zu bekommen. Aber wir haben es geschafft!

Ivan: Das war 2021. Dann haben wir die Anton Bruckner-Uni abgeschlossen und sind nach Wien gezogen, in unser erstes Zuhause.

Kasija:. Und heuer im Januar hatten wir unseren dritten Hochzeitstag.

Was hat euch dazu bewogen beziehungsweise was hat zu eurer Entscheidung geführt nach Wien zu ziehen?

Kasija: Ich war unsicher, ob das eine Stadt für uns ist, aber Vanja hat mich überzeugt und so sind wir ein paar Monate nach unserer Heirat gemeinsam nach Wien gezogen.

Ivan: Ja, es war meine Initiative. Kasija war sich, wie sie sagt, nicht sicher, ich habe sie überzeugt oder besser gesagt überredet. Wien war seit meinem elften Lebensjahr mein Traum. Ich weiß nicht warum. Es war so ohne Grund, ich dachte nur, dass ich mich in Wien wohlfühlen würde. Und überraschenderweise fühle ich mich in der Tat sehr wohl hier.

Kasija war sich auch deswegen unsicher, weil wir hier niemanden kannten und wir hatten auch keine Jobangebote oder ähnliches. Aber ich habe daran geglaubt, dass wir alles finden werden, was wir brauchen.

Eine weitere lustige Tatsache ist, dass wir uns im Spätsommer 2019, bevor wir uns in Linz wirklich kennengelernt haben, zufällig auf der gleichen Party in Wien befanden, ohne uns zu sehen oder einander auch nur zu bemerken.

Vielleicht bedeutete das damals, dass wir gemeinsam in Wien leben sollten. Ich bin sehr froh, dass wir hier leben.

Was bedeutet eure Beziehung für euch in Bezug auf euer künstlerisches Schaffen?

Kasija: Die Beziehung zu Vanja (das ist die russische Koseform für Ivan) spielt für mich als Mensch und als Künstlerin eine große Rolle. Da wir beide Künstler sind, können wir ein Leben führen, das ganz und gar der Kunst gewidmet ist. Kurz bevor wir uns kennenlernten arbeitete ich in der Tanzkompanie des Linzer Landestheaters, mein Vertrag war ausgelaufen und ich befand mich an einem Scheideweg in meinem Leben.

Mir war nicht mehr danach. nur als Tänzerin in einer Kompanie zu arbeiten, ich wollte mehr studieren, eigene Projekte machen, multimediale und interdisziplinäre Kunst erschaffen und neue Möglichkeiten und Chancen erkunden. Ich hatte Träume und Ambitionen, aber ich wusste nicht so recht, wo ich anfangen und wie ich das alleine schaffen sollte.

Die Begegnung mit Vanja brachte eine unglaubliche Menge an Energie und Motivation in mein Leben und alles begann möglich zu werden. Ich bewundere ihn als Künstler und Schöpfer sehr und fühle mich sehr motiviert, mit ihm zu arbeiten. Aber es gibt auch Dinge, die wir nicht gemeinsam machen, aber er unterstützt mich auch dabei und seine Bewunderung für mich gibt mir viel Selbstvertrauen, Inspiration und Freiheit.

Ivan: Für mich wäre es unrichtig unsere Beziehung und die Kunst getrennt zu denken, es wäre nicht richtig zu sagen, dass das eine das andere unterstützt oder das eine das andere stört oder das eine das andere beeinflusst, nur weil wir uns so nahe sind. Die Kunst und unsere Beziehung sind im Grunde dasselbe.

Kasija und ich sprechen viel über Kunst und über unsere Arbeit und wann immer wir gemeinsam oder getrennt arbeiten, ist die Kunst der Inhalt unseres Lebens, sie nimmt unseren gemeinsamen Raum ein. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir das Leben auf die gleiche Weise verstehen und unser Leben ganz der Kunst gewidmet ist.

War es zuerst die Liebe, durch die ihr euch gefunden habt oder war es die Kunst, die euch zusammengeführt hat und daraus erwuchs dann eure Liebe?

Kasija: Darauf werden wir beide wahrscheinlich ganz unterschiedlich antworten. Für mich begann unsere Liebe, als wir zusammen Kunst machten.

Sobald wir anfingen zu studieren arbeiteten wir gemeinsam an den verschiedensten Projekten. Und nach nur einem Semester kam ja schon die Pandemie und der Rest unseres Studiums fand online statt. Das gab uns die unglaubliche Gelegenheit, uns besser kennenzulernen.

Wir hörten alle Vorlesungen gemeinsam zu Hause und verbrachten dann auch noch die Freizeit zusammen. Wir redeten endlos über die Kunst und das Leben und schließlich entwickelte sich eine sehr enge und intime Beziehung zwischen uns. Wir haben auch in dieser düsteren Zeit weiter Kunst gemacht und mehrere Projekte ins Leben gerufen, eines davon war das Kunstkollektiv „Flirty Horse“.

Ivan: Für mich war alles gleichzeitig da. Als wir uns kennenlernten, schrieben wir ein Manifest. Wir waren beide sehr begeistert von der Idee, die hinter „Flirty Horse“ stand, dabei war und ist eine unserer wichtigsten programmatischen Aussagen „ein Künstler trennt nicht zwischen Leben und Kunst“. In einem großen metaphysischen Sinn haben wir beides nicht getrennt – es war eine Romanze, aber gleichzeitig ein künstlerisches Tandem.

Für mich haben Kunst und Liebe die gleichen Regeln, die gleichen Fallen und führen zur gleichen Glückseligkeit. Kasija war in diesen Dingen immer radikaler als ich, aber auch irgendwie ängstlicher und doch wagemutig zugleich. Es ist ein Paradoxon. Oder auch nicht. Aber ich liebe das an ihr. Sie wollte verrückte Sachen machen, „Flirty Horse“ verdankt seine ganze Verrücktheit Kasija. Sie war immer wie eine vibrierende Basssaite. Als wir uns kennenlernten, war das die Zeit des Ausbruchs, der künstlerischen Explosion.

Aber es war eine Explosion in einem Wasserglas – ich vermute, alle erinnern sich, wie es während der Corona-Zeit aussah. Wir konnten nirgendwo auftreten. Dann kam Kasija mit der Idee von „Perfect Sense“ – ein Duett, in dem wir uns dreizehn Minuten lang an der Grenze des Anstands küssen und berühren.

Wir zeigten das Stück zum ersten Mal mitten in der Pandemie, denn wir durften uns küssen, weil wir aus einem Haushalt stammten, aber unser Publikum sollte die Masken aufbehalten und drei Meter Abstand voneinander halten. Es war äußerst surreal. Diese gefangene, eingesperrte Verrücktheit war der Inhalt unserer Liebe, als wir uns kennenlernten. Jetzt ist sie gereift, und unsere Kunst ist mit ihr gereift.

Wie kam es nun genau zur Gründung von „Flirty Horse“, ist das euer erstes gemeinsames Art Collective? Beteiligen sich daran auch noch andere Künstler*innen?

Kasija: Ja, „Flirty Horse“ ist unser erstes Kunstkollektiv, das wir gemeinsam gegründet haben. Die Idee dafür hatten wir Anfang 2020, als wir noch in Linz lebten. In dieser Zeit, in der wir mit all unseren FreundInnen, MitbewohnerInnen und KollegInnen in der Isolation gelandet sind, war es ja unmöglich, öffentlich Kunst zu machen.

Flirty Horse“ war unser Versuch weiterzuarbeiten, uns auszutauschen, uns virtuell zu treffen und Kunst zu schaffen. Wir erstellten ein Manifest, versammelten eine ganze Gruppe verschiedener KünstlerInnen um diese Idee herum und führten mehrere Projekte durch: eine Labyrinth-Webseite, drei experimentelle Filme, eine ortsspezifische Live-Performance in einer Bar.

Ivan: Damals war „Flirty Horse“ eine winzige, aber chaotische und unorganisierte Studentenbewegung. Wir hatten etwa neun Mitglieder. Einige großartige Dinge sind dabei herausgekommen zum Beispiel war einer der Experimentalfilme ein echtes Gemeinschaftswerk: Jedes Mitglied drehte eine fünfminütige Solo-Episode, und der Film war eine Art Zusammenfassung von kurzen Videogeschichten. Aber Kasija und ich waren der Kern der Sache, wir haben versucht die anderen mit unseren Ideen anzustecken, aber das hat nur teilweise funktioniert.

Einerseits waren einige unserer Ideen zu radikal oder zu naiv, andererseits war es ein Kollektiv von StudentInnen in der Corona-Quarantäne: einige von ihnen hatten eine Depression, andere verliebten sich ineinander und entliebten sich dann wieder, manche waren aufs Feiern fixiert, andere waren einfach zu unsicher, um wirklich Kunst zu machen. Und Linz ist so klein, so langsam, selbst ohne Corona ist die Gemeinschaft dort winzig.

Kasija: Als wir dann nach Wien gezogen sind haben wir „Flirty Horse Art Collective“ offiziell als Verein registrieren lassen. Wir sind der Kern des Kollektivs und laden je nach Projekt weitere Leute ein, mit uns zusammenzuarbeiten.

Ivan: Ja, wir haben in Wien „Flirty Horse“ neu überdacht und neu eröffnet. So besteht „Flirty Horse“ heute eigentlich nur noch aus Kasija und mir und viele andere KünstlerInnen werden zu Gästen von „Flirty Horse“. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern und wir werden eine größere feste Gruppe haben – wir sind offen für Veränderungen.

Worum geht es euch in eurem Kunstschaffen, könnt ihr darauf näher eingehen, damit sich unsere Leser*innen ein genaueres Bild davon machen können?

Kasija: In unserer künstlerischen Praxis und in unseren Projekten befassen wir uns mit Themen wie: persönliche Identität – Hinterfragung der Erscheinungsformen und Folgen der Identifikation mit verschiedenen Rollen, die wir im Laufe des Lebens bewusst oder unbewusst verkörpern und derjenigen, die uns auferlegt werden; die Komplexität der menschlichen Innenwelt – Umgang mit Gedanken, Gefühlen, Überzeugungen, persönlichen Prozessen und Traumata; Antagonismus zwischen Intimität und Autonomie in engen zwischenmenschlichen Beziehungen.

Oft wird unsere eigene Beziehung zum Gegenstand der künstlerischen Forschung und der öffentlichen Aufführung.

Unsere künstlerische Praxis ist vielschichtig und interdisziplinär. Je nach Idee und Inspiration greifen wir zu einem geeigneten Ausdrucksmittel, und unsere Projekte umfassen hauptsächlich Text, Bewegung, Schauspiel, Musik, Video und visuelle Elemente. Unsere Basis ist die Schaffung von Performances und diversem Aufführungsmaterial – Tanz und Schauspiel. Aber manchmal ist Video ein geeigneteres Medium, weil das Schneiden und das Bearbeiten kreative Möglichkeiten eröffnet.

Doch neben diesen gemeinsamen Prozessen und Kreationen hat jeder von uns auch seine eigenen. Ivan ist Autor von Theaterstücken und Romanen und ich bin als Autodidaktin bildende Künstlerin und mache Lichtskulpturen.

Ivan: Ich glaube, unsere Kunst ist der Dichtung ähnlich. Wir sehen die Welt als Poesie. Unsere Kunst ist meistens poetisch. Ich denke, das ist die präziseste Anleitung für das Publikum, wie es unsere Stücke betrachten kann oder soll. Wie beim Lesen von Gedichten.

Wie Alexandr Blok, ein großer russischer Dichter, sagte, ist ein Dichter ein Mensch, der alles bei seinem richtigen Namen nennt, der einer lebendigen Blume ihren Duft stiehlt. Für mich ist es sehr wichtig, in meiner Arbeit etwas Unsichtbares zu berühren, einige Verbindungen, die existieren, aber nicht offensichtlich sind. Meine Arbeit als Künstler besteht darin, sie zu entdecken und für andere Menschen sichtbar zu machen. Ich möchte also, dass mein Publikum sie sieht, ich möchte, dass mein Publikum fühlt, was ich fühle.

Ich möchte, dass sie sagen: Ja, ich fühle diese Verbindung, es ist auch in meinem Leben so. Nach der Premiere meines Stücks „Der verlorene Geburtstag“ gestand mir eine der Zuschauerinnen: „Du hast in deinem Stück meine Geschichte erzählt“ – und genau das ist der Sinn meiner Arbeit. Sehr ehrlich zu sein, gnadenlos ehrlich mit dem Publikum, so dass die ZuschauerInnen ehrlich mit sich selbst und mit mir sein können. Und in diesem Moment sind wir nicht einsam, existenziell nicht einsam.

Was sind die tiefsten Motive eures Kunstschaffens, ist es ein Instrument, um der Welt eure Ansichten mitzuteilen oder … ? Wer ist Kasija Strelkin als Künstlerin, wer ist Ivan Strelkin als Künstler? Warum tut sie, was sie tut, warum tut er, was er tut?

Mich interessiert auch euer Zugang zu Musik und Texten und welchen Stoff ihr bevorzugt, sind es eher Dramen, klassische oder zeitgenössische Stücke und wie erarbeitet ihr euch die Rolle beziehungsweise ein Stück?

Kasija: Ich bin eine sehr intuitive und affektive Schöpferin. Ich habe ständig Geistesblitze. Wenn ich im Laufe des Tages auf einer Straße, in einem Park oder an einem anderen öffentlichen Ort etwas sehe oder höre, das mich fasziniert, stelle ich es mir oft auf der Bühne vor.

Teile von verlassenen Baustellen, nackte Winterzweige oder gefällte Bäume könnten Teil einer Skulptur oder eines Bühnenbilds werden; eine Person auf der Straße könnte eine interessante Figur werden; fließende Kompositionen von Menschen im öffentlichen Raum können zur Partitur für eine Choreografie werden.

In diesem Sinne sehe ich die Welt immer durch die Linse von Kunst, als ob alles im Leben potenziell Material für eine Schöpfung ist. Ich habe das Gefühl, dass alle Eindrücke, die ich im Leben durch meine Sinne sammle, irgendwo in meinem Wesen, meinem Geist und meinem Körper gespeichert werden. Dass sie sich dort mit anderen, bereits gespeicherten Eindrücken verbinden und sie schließlich durch eine schöpferische Handlung nach außen dringen müssen. Es ist so, als ob Kunst nicht wirklich eine bewusste Entscheidung ist, über die ich Kontrolle habe, sondern eher ein unvermeidlicher Zustand des Seins, der Existenz und der Interaktion.

Ich würde mich als multidisziplinäre Künstlerin bezeichnen. Für mich bedeutet das, dass ich versuche, mich ganz meinen eigenen Inspirationen und Visionen hinzugeben, dass ich durch das Hören auf die innere kreative Stimme, die aus höheren Ebenen kommt, den Ideen für eine Kreation erlaube, das Medium und das Material zu bestimmen, durch das sie ausgedrückt werden wollen. Und deshalb drücke ich mich manchmal durch Tanz und Bewegung aus, manchmal durch Text und Schauspiel oder reine Performance, manchmal male oder zeichne ich etwas, baue oder modelliere, nehme auf, filme oder schneide, und manchmal segle ich einfach durch mein eigenes inneres Universum, wo ich durch Kontemplation und Meditation diesen esoterischen Ort erreiche, eine Quelle aller Kreativität.

Von diesen inneren Reisen komme ich immer mit neuem Wissen zurück, gestärkt und inspiriert für neue Kreationen. Bewegung und Tanz sind jedoch die intimsten Ausdrucksformen meiner Seele. Für mich ist der Tanz als Bewegungskunst die Qualität und die Eigenschaften des Lebens selbst, er ist eine Art und Weise, sowohl die eigene innere Welt als auch die Welt außerhalb wahrzunehmen, zu erleben und mit ihr zu kommunizieren.

Noch wichtiger als das ist, dass der Tanz, aber auch der Ausdruck durch andere Künste, uns in den gegenwärtigen Moment bringen kann, uns mit unserer wahren Natur, mit der Welt um uns herum und schließlich mit dem Ewigen und Göttlichen verbinden kann.

Ivan: Meine Kunst ist mehr ein Bekenntnis, als eine Predigt. Ich liebe die Menschen, ich bin neugierig auf sie und wenn ich etwas über sie verstehe, mache ich ein Stück.

Außerdem macht es mir sehr viel Spaß, mit DarstellerInnen zu arbeiten, vor allem mit SchauspielerInnen. Bei SchauspielerInnen ist man nie sicher, man weiß nie, was sie in der nächsten Minute tun oder sagen werden. Es ist sehr schwierig, sehr kompliziert, ein*e SchauspielerIn zu sein.

SchauspielerInnen sind gleichzeitig MusikerInnen und ihre eigenen Instrumente, sie spielen quasi auf sich selbst. Um es genauer zu sagen, spielen sie auf ihrer eigenen Psyche, wie auf einem Instrument. Das ist unglaublich schwer. Ein*e SchauspielerIn sollte gleichzeitig eine sehr stabile und eine sehr instabile Persönlichkeit sein.

Jede Aufführung ist eine Reise für eine*n SchauspielerIn, eine Reise in das eigene Unterbewusstsein. Das fasziniert mich. Es ist sehr interessant, SchauspielerInnen auf dieser Reise zu begleiten, sie irgendwohin zu bringen, wo keiner von uns jemals gewesen ist, um gemeinsam neue Dinge über das Leben zu entdecken. Ich habe das Gefühl, dass es etwas Echtes ist, etwas, das zählt. Das motiviert mich, das zu tun.

Für mich ist mein Kunstschaffen ein Instrument der Forschung. Es ist die Art und Weise, wie ich die Welt verstehe. Wenn ich etwas über das Leben verstehe, wenn ich eine neue Verbindung zwischen zwei Dingen entdecke, die vorher nichts miteinander zu tun zu haben schienen, nur dann kann ich ein Stück darüber schreiben. In der Vergangenheit habe ich sowohl mit klassischen als auch mit zeitgenössischen Texten gearbeitet: Zu den klassischen Autoren gehören F. Garcia Lorca, Oscar Wilde, Max Frisch, Shakespeare.

Mein Lieblingsautor der Gegenwart, dessen Stück ich inszeniert habe, ist Martin McDonagh. Aber neuerdings schreibe ich die Texte für meine Stücke selbst. Ich schreibe professionell seit 2017, da habe ich ein paar Dialoge für mein Stück „Too late to die young“ geschrieben, heute fühlt es sich für mich authentischer an, die literarische Dimension meiner Stücke selbst zu gestalten.

Schreiben ist für mich immer sehr persönlich und ich habe das Gefühl, dass ich durch meinen eigenen Text ehrlicher sprechen kann, als durch den Text einer anderen Autorin oder eins anderen Autors. Meine jüngsten Werke sind auf diese Weise entstanden: „Der verlorene Geburtstag“ und „Das Solo der vergewaltigten Geige“ habe ich selbst geschrieben.

Ich arbeite immer mit realen Geschichten, realen Menschen, aber ich verwandle das dokumentarische Material in Fiktion, gebe ihm eine künstlerische Form. Einige der realen Geschichten sind meine eigenen, persönlichen Erfahrungen, einige habe ich gehört oder gesehen.

Gelegentlich arbeite ich auch mit so genannten Literaturmodellen. Das ist wie bei Aktmodellen für Zeichnen. Ich lade Menschen ein, meine Literaturmodellen zu werden. Sie erzählen mir vertraulich ihre Geschichten, und dann werden ihre Geschichten zu Literatur. Die echten Namen werden nie erwähnt, die Realität bleibt immer vertraulich, sogar Kasija erzähle ich nichts von diesen Gesprächen. Auch die entstandene Figuren sind nicht mit den Modellen gleichzusetzen: Manchmal bildet eine echte Person die Grundlage für zwei oder sogar drei Charaktere, und manchmal verschmelzen zwei oder drei echte Personen zu einer Figur. Sowohl „Der verlorene Geburtstag“ als auch „Das Solo“ wurden auf diese Weise geschrieben.

Wirkt ihr, abgesehen von euren eigenen Filmen, die ihr produziert, auch als Darsteller*in in Filmen von anderen mit?

Ivan: Wir haben beide vor mehr als einem Jahr in dem Film „17 km“ von Harald Hund mitgespielt, jetzt am 17. Februar gehen wir zur Premiere. Für mich ist das ein Beispiel für eine sehr lange Zeit. Kasija hat mehr Bezug zum Kino, sie hat selbst viele experimentelle Filme gemacht.

Kasija: Ja, ich mag es sehr, mit dem Medium Film zu arbeiten. Der Prozess des Filmens und anschließenden Bearbeitens bietet einige Möglichkeiten, die in der Realität oder bei einer Live-Performance nicht möglich sind.

Ich habe mehrere experimentelle Filme gedreht und jeder von ihnen lädt die ZuschauerInnen in eine surreale, psychedelische Fantasiewelt voller verzerrter Formen, verzögerter Bewegungen, ineinander übergehender und sich verwandelnder Formen, pulsierender Farben und immersiver Klangwelten ein.

Zusammen mit Vanja habe ich auch mehrere Kurzfilme gedreht und mit einem haben wir sogar am INSTANTS 36 Festival in Salzburg teilgenommen.

Wo arbeitet ihr, wo finden eure Proben statt, wo führt ihr eure Performances und Stücke auf?

Kasija: Als freischaffende Künstler müssen wir mobil und nomadisch sein, wir wechseln die Proberäume und treten an verschiedenen Orten in der Stadt auf.

Wir waren mit unseren Stücken im Studio Moliere, im Spektakel, im Off Theater, am Arbeitsplatz, im WUK, im Dschungel Wien, im Pygmalion Theater, in ein paar anderen kleineren Studios. Unsere Proben halten wir oft auch in unserem Wohnzimmer ab.

Ivan: Jedes Projekt ist eine neue Geschichte, ein neues Leben. Wir suchen immer neue Veranstaltungsorte und neue Gelegenheiten, um aufzutreten.

Mit einigen Spielstätten hatten wir aber schon mehrmals eine Zusammenarbeit. Zum Beispiel mit dem Spektakel Wien – auf dieser kleinen Bühne sind wir schon zwei Mal aufgetreten, jetzt wird die Premiere von „Das Solo der vergewaltigten Geige“ das dritte Mal sein. Eine tolle Erfahrung habe ich mit dem Pygmalion Theater gemacht, dort fand im November 2023 die Premiere von „Der verlorene Geburtstag“ statt. Mehrmals sind wir im OFF Theater im Rahmen des von Bianca Braunesberger und cie.Tauschfühlung organisierten Tanzfestivals aufgetreten.

Wie gestaltet sich eure augenblickliche Lebenssituation, wie ist euer Lebensgefühl? Was sind eure Hoffnungen, Ambitionen und Ziele?

Kasija: Wie ich bereits erwähnt habe, sind wir beide freischaffende Künstler, diese Tatsache bestimmt sehr viele Aspekte unseres Lebens. Freiberufler zu sein bedeutet im Grunde genommen, ständig zu arbeiten, immer entweder in irgendwelchen Projekten engagiert zu sein, eigene Projekte zu entwickeln oder auf der Suche nach neuen Möglichkeiten zu sein. Diese Art zu leben kann ziemlich anstrengend und beängstigend sein, weil sie nicht die typische Sicherheit in einem existenziellen Sinn bietet.

Aber wenn wir es schaffen, uns über Unsicherheiten und Erwartungen zu erheben, ist die Art und Weise, wie wir unser Leben leben, unglaublich schön. Ich sage das, weil wir tatsächlich genau das tun, was wir wollen und wählen, was wir als unsere Berufung empfinden, wir machen unsere Kunst. Und dann ist es nicht schwer, sich zu engagieren und sich allem, was wir tun, voll und ganz hinzugeben, mit dem ganzen Geist, dem Herzen und der Seele.

Ich bin sehr dankbar, dass ich so leben kann, dass ich mich nicht von dieser materiellen Welt erdrückt und zermalmt fühle, von all der Hektik und dem Wahnsinn, vom Stress der ständigen Produktivität Handelswaren herzustellen und der damit verbundenen Profitgier.

Hoffnungen, Ambitionen und Ziele? Ja, ich habe einige. Ich würde gerne mehr unterrichten, nicht nur mit Profis arbeiten, sondern die Freude, die Schönheit und alle anderen Vorteile von Bewegung und Tanz an so viele Menschen, wie nur möglich weitergeben und teilen. Ich möchte also Klassen, Workshops und Kurse für verschiedene Gruppen und Menschen organisieren. Ich möchte auch mehr Raum und Zeit in meinem Leben für die bildende Kunst, für meine leuchtenden Skulpturen schaffen. Ich habe das Gefühl, dass im Moment ein Teil von mir das Bedürfnis hat, diese Art von Arbeit gründlich auszuführen.

Dies sind einige andere größere oder kleinere Ambitionen und Ziele, aber am wichtigsten istmir,, dass ich wirklich Beziehungen und Verbindungen zu den Menschen in dieser Stadt aufbauen möchte, um irgendwie zu verstehen, was ich anbieten kann, was für meine Umgebung von Nutzen und Interesse sein kann.

Ivan: Ich fühle mich in diesem Jahr sehr inspiriert – ich habe mehrere Projekte geplant, über die ich mich sehr freue. Eines habe ich schon erwähnt: „Das Solo der vergewaltigten Geige“.

Außerdem bin ich gerade für das Finale des Theater Drachengasse Nachwuchswettbewerbs angenommen worden, gemeinsam mit Bianca Braunesberger und Barbara Angermaier. Wir werden eine 15-minütige Skizze des Stücks „Die Düntzer Rhapsodie“ erarbeiten, die sich mit dem Thema der Beziehungen zwischen Stadt und Dorf in Österreich beschäftigt. Im Mai wird es im Theater Drachengasse zusammen mit den Präsentationen der anderen FinalistInnen aufgeführt werden.

Dann hoffe ich auf die Premiere eines zeitgenössischen Opernprojekts im Herbst. Generell wollen wir mehr Projekte machen, uns stärker in die Wiener Kunstszene integrieren und ab Herbst auch mit dem Unterrichten beginnen. Kasija hat viele Ideen für Bewegungskurse und ich würde gerne Schauspiel und Regie unterrichten.

Was das Persönliche betrifft: Ich bin sehr glücklich mit dem Ort und wo ich jetzt bin. Ich bin viele Jahre herumgereist und mit Kasija, hier in Wien, fühle ich mich endlich wie zu Hause. Ich würde gerne hier bleiben, um hier unser Leben aufzubauen. Ich weiß nicht, ob ich bestimmte Ambitionen oder Ziele habe – ich bin sehr glücklich mit dem Leben, das wir jetzt führen und ich würde gerne diesen Weg weitergehen.

Gehören für euch soziales Engagement und/oder gesellschaftspolitische Themen und Kunst zusammen?

Kasija: Kunst ist in gewisser Weise unweigerlich ein Spiegelbild der Umgebung, aus der sie hervorgeht. Kunst, egal in welcher Form, ist meist öffentlich und daher kaum von gesellschaftspolitischen Strukturen zu trennen,

Dennoch ist es für mich sehr wichtig, diese Verbindung und Interdependenz als eine poetische zu erhalten und nicht unbedingt mit aktivistischen Absichten zu füllen.

Was ich damit meine, lässt sich vielleicht am besten mit unserem „Flirty Horse“ MANIFEST demonstrieren:

A Flirty Horse is the beginning and the end. A Flirty Horse didn’t become a Flirty Horse. A Flirty Horse was born a Flirty Horse. Foxes have dens and birds have nests, but a Flirty Horse has no place to lay her head. She chooses her fate like a dress. She just puts it on and goes out. A Flirty Horse has no fear, no shame, no vanity; she has no doubts, but she is never sure. A Flirty Horse never stops, as time never stops. Unless it does. But a Flirty Horse goes on nevertheless. A Flirty Horse doesn’t believe in names and titles, because she knows: everything is connected. Everyone can be a Flirty Horse.

Ivan: Ja, natürlich, sie gehören zusammen. Die Kunst steht in enger Beziehung zur sozialen Agenda und zu politischen Themen. Mein Gefühl ist jedoch, dass die Kunst größer ist, als die Politik und dass sie auch eine andere Aufgabe hat.

Ich denke, dass die Kunst eine Quelle der absoluten Liebe, des Pazifismus, der Akzeptanz und der Neugier gegenüber dem Anderssein ist.

Die Kunst wählt keine Seiten. Es liegt in der Natur der Kunst, Schmerzen zu heilen, unterdrückte Emotionen freizusetzen, Menschen zusammenzubringen, sie einander näher zu bringen, es geht um das Menschsein und hier zählt jede und jeder.

Aber Kunst kann auch missbraucht werden – sie kann zur Förderung von Aggression, zur Rechtfertigung von Gewalt usw. eingesetzt werden, das ist für mich inakzeptabel. Und ich glaube, hier liegt die soziale Verantwortung der Autorin oder des Autors – zu sehen, in welchem Kontext ihre beziehungsweise seine Werke erscheinen, was sie im Moment bedeuten, wie sie klingen.

Für mich ist es immer noch eine sehr komplizierte Frage, was auf der Bühne gezeigt werden darf und was nicht, aber ich glaube, dass Kunst auf keinen Fall Gewalt, Diskriminierung oder Unterdrückung jeglicher Art fördern darf.

Was bedeuten euch die Begriffe Familie und Heimat?

Kasija: Familie ist für mich ein komplexes Thema, mit dem ich mich im Laufe meines Lebens in unterschiedlichster Weise auseinandergesetzt habe. Als Mitglied meiner Familie, konnte ich die ganze Palette an Situationen, Gefühlen und zwischenmenschlichen Interaktionen erleben. Einige davon waren ziemlich schädlich, voller Schwere und Aggression und viele waren unglaublich schön, freudig und liebevoll.

Aber alle, ob angenehm oder unangenehm, waren sehr wichtige und bedeutungsvolle Erfahrungen, die mich viel über die menschliche Natur gelehrt haben. Indem ich meine Familie und mich selbst innerhalb meiner Familie beobachtete, konnte ich sehen, wie bestimmte Verhaltensmuster, Umgangsformen und sogar Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden. Daraus habe ich gelernt, wie wichtig es ist, dies zu erkennen und bestimmte Werkzeuge zu entwickeln, um all das zu überwinden und zu ändern.

Ich habe verstanden, dass jede neue Generation in einer Familie das Potenzial, aber auch in gewisser Weise die Verantwortung hat, einige traumatische und negative Dinge zu heilen, die sich über Generationen angesammelt haben. Und wenn uns das gelingt, dann bekommen alle unsere lebenden und verstorbenen Vorfahren etwas Frieden und Auflösung. Eine Person, die nicht nur meine Mutter, sondern auch meine ewige Lehrerin, mein erster Guru ist, hat mich dazu gebracht, die Dinge auf diese Weise zu sehen.

Und als Vanja und ich beschlossen, zu heiraten und eine Familie zu gründen, wurden so viele dieser ererbten Familienmuster und Traumata offensichtlich, aber diese neue Beziehung bietet eine unglaubliche Gelegenheit, sich ihrer bewusst zu werden, sie aufzulösen und sich von ihnen zu heilen.

Was den Begriff Heimat betrifft, so kann ich nicht sagen, dass ich eine ausdrückliche emotionale Reaktion darauf habe. Nationale oder ethnische Identität ist nichts, womit ich viel zu tun habe. Ich fühle, dass die Zeit, der Ort, die Mentalität, die Umgebung und die Umstände, in denen ich geboren wurde, ein Teil von mir sind, weil ich dort und aus diesem Material geschaffen wurde. All diese Dinge sind wie Teile eines Puzzles, sie sind irgendwo in mir, kleine Teile in einem großen Bild, das ich bin. Sie sind ein Teil von mir, sie gehören zu mir und nicht ich zu ihnen.

Mit anderen Worten: Heimat und all ihre sozioökonomisch-politisch-national-ethnischen Erweiterungen sind nicht etwas, mit dem ich mich identifiziere oder zu dem ich gehöre, aber einige ihrer Aspekte, Merkmale, Eigenschaften und Qualitäten sind Teile von mir, und ich versuche, mir sehr bewusst zu machen, wie dies mein Denken und Handeln in der Welt bestimmt.

Ivan: Ich habe keine Heimat mehr. Es ist keine radikale Entscheidung, die ich getroffen habe, es ist einfach so, wie es in der Tat ist. Es war keine Wahl, es war eine Folge von Entscheidungen, die weniger bedeutsam schienen, die mich aber hierher führten, wo ich jetzt bin.

Ich habe fünfundzwanzig Jahre meines Lebens in Russland gelebt, und ich habe es nie besonders gemocht. Ich habe sentimentale Erinnerungen an meine Heimatstadt und an die Tage meiner Jugend, aber das ist etwas Persönliches und hat nichts mit dem Konzept der Heimat zu tun.

Dann lebte ich mehr als zehn Jahre lang in anderen Ländern. Estland, Deutschland, Österreich. Außerdem bin ich viel durch Europa gereist, von den Niederlanden bis nach Kroatien. Jede Verbindung mit der russischen Kultur in mir löste sich auf. Ich habe nur noch einen Freund aus St. Petersburg, mit dem ich zweimal im Jahr per Zoom telefoniere.

Es gibt neue Wörter, die in der russischen Sprache aufgetaucht sind, seit ich weg bin. Ich stolpere im Internet über sie und manchmal weiß ich nicht, was sie genau bedeuten. Dann natürlich der Krieg in der Ukraine, das monströse Verbrechen, das die letzten Reste meiner Sentimentalität gegenüber Russland zerstört hat. Es ist auch entsetzlich, was jetzt im Lande passiert – Propaganda, Verhaftungen, Mobilisierung. Das ist sehr traurig für mich. Aber wie ich schon sagte, hat meine Realität schon seit mehr als zehn Jahren nichts mehr mit Russland zu tun. Ich fühle mich als Bürger der Welt. Ich glaube, wenn ich in China oder in Argentinien leben würde, würde ich Europa als meine Heimat empfinden. Ich glaube nicht, dass ich Österreich jemals als meine Heimat empfinden werde, aber als Zuhause – ja, das glaube ich. Und das ist für mich genug.

Familie ist für mich Kasija, unser Hund Arlie, unser Leben, unsere Pläne für die Zukunft. Es ist kein Begriff für mich, es ist sehr konkret. Kasija und Arlie.

Und schon sind wir bei der letzten Frage: Was sind eure Ziele, was möchtet ihr noch erreichen, gibt es Pläne für die Zukunft?

Flirty Horse“ wird viele unglaubliche Projekte hervorbringen, das ist der Plan! Außerdem träume ich davon in Wien einen Raum für junge Theaterregisseure zu eröffnen, es gibt so viele Räume für Tanz und Performance, aber nicht wirklich einen für Schauspieltheaterleute. Wir wollen auch eine Schule für darstellende Kunst eröffnen – den ersten Schritt planen wir im Herbst 2024. Und dieses Jahr werden wir unsere Kurse für Bewegung und Schauspielkunst für Interessierte auf jedem Niveau eröffnen.

Ich danke euch beiden sehr herzlich für dieses Interview. Ivan, in ein paar Tagen wird dein neuestes Stück in Wien im Spektakel uraufgeführt, möchtet du darüber noch etwas sagen?

Ja, sehr gerne, ich möchte die Leser*innen zur Uraufführung meines neuen Stückes „Das Solo der vergewaltigten Geige“ einladen.

Ich habe eine Geschichte über sieben völlig unterschiedliche Menschen geschrieben, die sich in Wien treffen, aber keiner von ihnen kommt ursprünglich aus Wien. Es ist ein Stück über Migration, Identitätswechsel, es geht auch um Tod und Erinnerung, es hat eine pazifistische Botschaft. Aber trotz allem ist es ein poetisches Stück, ja, es ist ein episches Gedicht über gewöhnliche Menschen von heute – Menschen, die jeden Tag durch die Straßen Wiens gehen.

Es geht auch um Schmerz. Sie wissen aus der Mathematik, dass Unendlichkeiten verschiedene Größen haben? Zum Beispiel ist die Unendlichkeit der Bruchzahlen viel größer, als die Unendlichkeit der ganzen Zahlen. Im Grunde ist sie unendlich größer. Ich glaube, das Gleiche gilt für den Schmerz. Menschen können sich unendlich verletzt fühlen, aber für jeden Menschen bedeutet die Unendlichkeit etwas anderes.

In Wien kann man Menschen aus vielen verschiedenen Kulturen treffen und man kann sehen, wie unterschiedlich ihre Unendlichkeiten sind.

Also, am 01.03. und am 02.03.2024 gibt es im Spektakel um 19h30 ein Stück über all diese Dinge. Bitte kommt vorbei und bringt eure Freunde mit.

Infos:

Webseite www.flirtyhorse.com

Facebook: https://www.facebook.com/flirtyhorse

Instagram: https://www.instagram.com/flirty.horse

Videolinks:

Verliebte Tiere (Trailer)

https://vimeo.com/786672850/de7cc80c3b?share=copy

Once You Glimpsed in the Corner of My Eye (Trailer)

https://vimeo.com/755224932/fbece43a96?share=copy

Essential Memory (short piece)

https://vimeo.com/660441967/db0c903bdc?share=copy

Perfect Sense (short piece)

https://vimeo.com/830491627/1336b96d05?share=copy

Twilight Blues (trailer)

https://youtu.be/eRMnaVAvffU?si=GELHJMVTmGlksvyj

Beast in love (trailer)

https://youtu.be/6Y5lFJrd4uA

Beware What Child Tastes (Kasija’s experimental movie)

https://youtu.be/Q3GP6LP_I0o

Keep an eye on the girl (trailer of kasija’s experimental movie)

https://youtu.be/JY-gHLy57JE

Too late to die young (Ivan’s piece form 2018, trailer)

https://vimeo.com/273516735?share=copy

Wenn die Kunst zum Medium des Menschseins wird und sie einen Namen hätte, dann hieße sie wie diese beiden: Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin. Wenn Sie sich, liebe Leserinnen und Leser, nun fragen, wer diese beiden Künstler denn sind, dann freue ich mich sehr, Ihnen heute eine Antwort darauf geben zu können. Zumindest will ich es versuchen, aber ich weiß natürlich, dass mir das nur in Ansätzen gelingen können wird.

Seit ungefähr zwei Wochen beschäftige ich mich täglich intensivst mit den beiden Künstlern und ihrem Art Collective Flirty Horse, ich suche nach Anhaltspunkten und nach Worten, wie ich sie am besten beschreiben und vorstellen kann. Ich lese und überarbeite das Interview der beiden, aber mein Blatt bleibt leer.  Und dann sehe ich diesen Trailer von „Das Solo der vergewaltigten Geige“, alleine wie Ivan Strelkin das Ausbreiten seiner Arme zelebriert – als wären es Vogelschwingen, um sie dann wieder zitternd einsinken zu lassen. Und es und er flirrt, bebt und lebt und vibriert: Und es bewegt mich zutiefst! In seiner Elementarität und Schlichtheit. Und es macht „Klick“ bei mir, so als hätte ich verstanden, was sie uns im Interview sagen und schenken wollen. Und nun wollen die Worte über Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin raus.

Ihr umfangreiches Kunstschaffen ist nämlich nicht nur vielgestaltig und vielschichtig, ihre Werke sind nicht nur multidimensional, komplex und von einer fast erschütternden Ehrlichkeit – vor allem sich selbst gegenüber, nein, sie scheinen auch von einer anderen Welt zu kommen, von einer geistigen Dimension und einer intensiven Auseinandersetzung mit den Dingen, die nur hinter dem Sichtbaren zu finden sind. So als würden die beiden über die Fähigkeit verfügen mit anderen Ebenen kommunizieren zu können.  Ihr Leben und ihre Beziehung sind untrennbar mit der Kunst verbunden. Sie sind als Künstler Forscher und Forscherin: Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin dringen in ihren Denkprozessen in eine schwindelerregende Tiefe vor, durchleuchten, zerpflücken und untersuchen jedes Detail und jeden Winkel des individuellen, wie des kollektiven Menschseins. Dabei machen sie sich oft selbst zum „Untersuchungsgegenstand“ ihrer Kunst. Es geht ihnen aber nicht darum zu schockieren oder zu provozieren, sondern darum emotionale und intellektuelle Erkenntnisprozesse auszulösen. Nicht nur bei ihrem Publikum, sondern auch bei sich selbst  Ihre Arbeiten drehen sich niemals darum, das Trennende hervorzuheben – es sei denn, um das Verbindende zu finden. Sie differenzieren punktgenau und machen doch keinen Unterschied, denn sie sind davon überzeugt, dass das, was uns alle verbindet, das Menschsein schlechthin ist. In ihrem Leben ist einfach alles Ausdruck von Kunst, seien es die kleinen Experimental-Filme oder die wohlgeformten futuristisch anmutenden Lichtskulpturen von Kasija Vrbanac Strelkin oder eines der Theaterstücke, das Ivan Strelkin geschrieben hat. In ihren ästethischen Gestaltungen finden sich die Bewegungen des Tanzes und des Lebens wieder. Es ist der Atem, der ihre Kunst durchströmt und sie so lebendig macht. Und über allem steht die Liebe, die sie trägt und die sie füreinander, für die Menschen, für das Leben und damit schlussendlich für die Kunst empfinden.

Sie sind viel herumgekommen und bei vielen Festivals aufgetreten, ob in Graz, Wroclaw, Karlovac, Linz, Wien oder so wie KasijaVrbanac Strelkin, die als Mitglied der TANZLIN.Z Tanzkompanie in dem Stück „Macbeth“ von Johann Kresnik bei Impulstanz tanzte – sie waren überall gern gesehene und gefeierte Gäste. Und vor ungefähr zweieinhalb Jahren sind sie glücklich in Wien gelandet und konnten hier Fuß fassen. Anfang 2020 haben sie, während der Corona Pandemie, das Art Collective Flirty Horse gegründet. Ein Name, der die Fantasie beflügelt, der etwas vorgibt und doch vieles offen lässt. Darüber werden wir von Kasija Vrbanac Strelkin und Ivan Strelkin im Interview-Teil noch mehr erfahren, ebenso wie über ihr Leben und ihre Zugänge zum Kunstschaffen.

Übrigens: Ich kann das neue Stück von Ivan Strelkin nur empfehlen. Die Uraufführung des Stückes „Das Solos der vergewaltigten Geige“ steht kurz bevor: es ist am 01.03 und am 02.03.2024, jeweils um 19h30 im Spektakel in Wien zu sehen.

Das Interview

Hallo Ivan, hallo Kasija, ich freue mich sehr, euch heute interviewen und näher kennenlernen zu dürfen. Die ersten Fragen beziehen sich auf euren biografischen Background und darum möchte ich euch auch gleich bitten mir zu verraten, wann und wo ihr das Licht der Welt erblickt habt?

Kasija: Also ich wurde am 16. Februar 1993 in Kroatien in einer kleinen Stadt namens Karlovac geboren.

Ivan: Und ich bin 1988 in Russland, in St. Petersburg, geboren. Ich habe Russland vor mehr als zehn Jahren im Alter von fünfundzwanzig Jahren verlassen.

Wie waren eure familiären Verhältnisse, seid ihr beide mit Geschwistern aufgewachsen und wer sind und wie waren eure Eltern?

Ivan: Meine Eltern sind beide schon im Ruhestand, ich war ein sogenanntes spätes Kind. Meine Mutter ist jetzt siebzig und mein Vater sechsundsechzig Jahre alt. Meine Mutter war Krankenschwester. Als ich klein war hat sie in einem Krankenhaus im Empfangsraum gearbeitet und später in einer Ambulanz.

Mein Vater hat Ausbildungen im Journalismus und im Management, er hat im Laufe seines Lebens oft die Berufe gewechselt, aber die letzten Jahrzehnte vor seiner Pensionierung arbeitete er in einer Bank.

Beide haben nicht wirklich etwas mit Kunst zu tun. Ich bin als Einzelkind aufgewachsen, aber ich habe einen Halbbruder – den Sohn meines Vaters aus seiner ersten Ehe. Allerdings haben wir schon seit vielen Jahren keinen Kontakt mehr.

 

Kasija: Ich habe auch einen Halbbruder aus der ersten Ehe meines Vaters. Sein Name ist Aljoša. Er ist zwölf Jahre älter als ich und Informatiker.

Aljoša lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in einer kleinen Stadt in der Nähe von Zagreb. Da wir nie zusammen gelebt haben, nicht einmal in derselben Stadt und wegen des großen Altersunterschieds hat sich keine besonders enge Bruder-Schwester-Beziehung zwischen uns entwickeln können.

Wir haben uns meist nur an wichtigen Tagen wie Weihnachten, Ostern und Geburtstagen gesehen, wenn die Familie mit Essen und Geschenken zusammengekommen ist,. Obwohl Aljoša und ich im Laufe unseres Lebens nicht viele Gelegenheiten hatten uns näher zu kommen, hat sich das, seit wir erwachsen sind, sehr verändert, Ich habe das Gefühl, dass wir sehr stark miteinander verbunden sind, denn obwohl wir nicht einmal im selben Land leben, sind wir irgendwie füreinander da.

Meine Eltern heißen Vera und Dorijan, die beiden sind in Karlovac geboren und aufgewachsen und sie leben immer noch dort. Ursprünglich lernten sie sich bei der Arbeit im selben Wasserversorgungsunternehmen kennen, aber sie hatten beide größere Träume und Visionen für die Zukunft.

Mein Vater investierte seine gesamte Freizeit und sein Geld in die Ausbildung zum Piloten und meine Mutter besuchte Tanzkurse. Als ich geboren wurde, war mein Vater schon Vollzeitpilot, was er bis zu seiner kürzlichen Pensionierung blieb.

Und meine Mutter eröffnete 1988 im Alter von dreiundzwanzig Jahren das erste Tanzstudio in der Stadt Karlovac und nannte es Studio 23. Im Grunde genommen repräsentieren meine Eltern zwei völlig verschiedene Welten. Mein Vater ist ein echter Kämpfer und adrenalinsüchtig: er ist Pilot, Taekwondo-Trainer, Diving-Lehrer, fährt Motorrad, baut ein Haus und noch vieles mehr. Ihm ist wichtig, dass immer etwas passiert, irgendeine Art von Aktion oder Arbeit.

Meine Mutter ist das pure Gegenteil, sie ist Zen, unterrichtet Tanz, liest Unmengen von Büchern, malt Bilder auf Möbel und Wände, praktiziert Reiki und meditiert. Sie befindet sich in einem spirituellen Zustand des Seins.

Die Beziehung meiner Eltern ist auch ein wenig ungewöhnlich. Sie trennten sich, als ich etwa sieben Jahre alt war. Da sie sich aber um mich kümmern mussten und beide an meinem Leben teilhaben wollten, gelang es ihnen, ein gutes Verhältnis zueinander zu bewahren.

Fast zwanzig Jahre lang lebten sie unabhängig voneinander ihr eigenes Leben und trafen sich nur manchmal. Aber dann, vor ein paar Jahren, als die Pandemie begann, verbrachten sie immer mehr Zeit miteinander, woraus sich eine neue Art von Beziehung zwischen ihnen entwickelte, die sehr eng und intim ist.

In gewisser Weise sind sie immer die wichtigsten Menschen füreinander geblieben und jetzt teilen sie einen neuen Teil ihres Lebens.

Danke für diesen Einblick in eure Herkunftsfamilien, der mich zu meiner nächsten Frage führt: Wie waren die sozialen Bedingungen unter denen ihr großgeworden seid?

Kasija: Ich wurde mitten in den serbisch-kroatischen Krieg hineingeboren. Das war eine harte und komplizierte Zeit. Schon an dem Tag, an dem ich geboren wurde, gab es roten Alarm und alle mussten sich in den Bunkern verstecken. Karlovac wurde während des Krieges generell stark angegriffen und bombardiert, sodass meine Mutter mich als Baby und unseren Hund oft in den Keller des Gebäudes bringen musste. Mein Vater hingegen war als Pilot vom ersten bis zum letzten Tag im Krieg, das heißt, er war mehr oder weniger fünf Jahre lang abwesend.

Wie jeder Krieg beeinflusste und bestimmte auch dieser unser aller Leben und die allgemeine Atmosphäre, in der ich aufwuchs. Die Nachkriegszeit ist nicht die einfachste und glücklichste, das Land ist politisch und wirtschaftlich instabil, es herrscht Armut, die Städte sind zerstört, und die Menschen sind voller Schmerz, Angst und Wut. Es war sehr wichtig der „richtigen“ Ethnie anzugehören, die „richtige“ Sprache zu sprechen, die „richtige“ Religion zu haben und alle Beziehungen zu dem zu verweigern, was als Feind angesehen wurde.

Dieser Wechsel von der Zugehörigkeit zu einem großen und einigermaßen wichtigen Land wie Jugoslawien zu einem freien und unabhängigen, aber auch sehr kleinem und durch den Krieg stark beschädigtem Land, gab mir das Gefühl in einem sehr isolierten, nicht entwickelten und abgeschnittenen Teil der Welt aufzuwachsen. Ich empfand meine Umgebung als schwer, traurig, frustriert und korrumpiert, durchdrungen von einem kollektiven Trauma, von dem es lange dauern wird, sich zu erholen.

In gewisser Weise hatte ich vielleicht das Glück, dass meine Großmutter Slowenin, mein Großvater Serbe und mein Vater Kroate war, so dass Feindseligkeit gegenüber anderen in meiner Familie nicht vorkam. Außerdem hatten meine Eltern einen erweiterten Horizont und eine Weltanschauung, die es mir ermöglichte, mich für verschiedene Dinge und Interessen zu öffnen und schließlich im Ausland zu leben.

 

Ivan: Meine Heimatstadt St. Petersburg ist eine ziemlich große Stadt, zwei oder sogar zweieinhalb Mal größer als Wien. In den 1990er Jahren durchlief das Land eine gewaltige Wirtschaftsreform, die Sowjetunion war gerade zusammengebrochen, 1991 und 1993 gab es Putsche, Panzer schossen auf das Parlamentsgebäude in Moskau, ein albtraumhafter Ausbruch von Kriminalität, man konnte ohne Probleme eine Waffe oder eine Granate auf einem Flohmarkt kaufen.

Ich erinnere mich nicht mehr an viel, weil ich ja noch sehr klein war, aber ich kann mich erinnern, dass unsere Familie sehr arm war. Meine Mutter arbeitete in Nachtschichten im Krankenhaus, mein Vater war arbeitslos und immer auf der Suche nach einem Job. Er nahm verschiedene Gelegenheitsjobs an, wie zum Beispiel als Verlader im Lebensmittelladen im Erdgeschoss unseres Hauses.

Ich weiß noch, dass wir den Geburtstag meines Vaters mit einem Schokoriegel „Nuts“ feierten – mehr konnten wir uns nicht leisten. Ich bin im Grunde genommen in Armut aufgewachsen, aber irgendwie habe ich keine düsteren Erinnerungen an diese Zeit – ich war ja klein, und außerdem hatte ich nichts, womit ich mich vergleichen konnte. Das war eben von Anfang an so – es gab kein Geld für Spielzeug oder Süßigkeiten usw., das war für mich aber normal.

Mein Vater hat mir sehr früh das Lesen beigebracht, mit vier Jahren konnte ich schon fließend lesen und so habe ich viel Zeit mit Büchern verbracht und dann mit Lernen. Meine Eltern wechselten mehrmals die Wohnung und so kam es, dass ich vier Schulen wechselte. Die letzte, auf der ich meinen Abschluss gemacht habe, war eine Privatschule, auf der ich kostenlos gelernt habe, weil ich das Stipendium für begabte SchülerInnen gewonnen habe.

Das war eine tolle Erfahrung. Diese Schule hatte ein sehr europäisches Flair und war den drei anderen Schulen, an denen ich zuvor gelernt hatte, sehr unähnlich: Unsere Klasse bestand aus nur dreizehn SchülerInnen, der Durchschnitt einer staatlichen Schule in Russland liegt bei fünfundzwanzig bis dreißig SchülerInnen.

Das Programm umfasste interessante Fächer wie Marketing und Kunstgeschichte, was in Russland auch nicht gewöhnlich ist und die LehrerInnen waren eher wie UniversitätsdozentInnen, denn sie behandelten uns mit Respekt und kümmerten sich um uns.

Diese Zeit, Anfang der 2000er Jahre, war viel besser, sicherer, wohlhabender – mein Vater bekam einen Job in der Bank. Und auch allgemein erholte sich das Land vom Schock der 90er Jahre, die Gesichter der Passanten auf den Straßen wurden heller und glücklicher.

Unmittelbar nach der Schule, im Alter von siebzehn Jahren, begann ich ein Bachelor-Regiestudium an der St. Petersburger Akademie für Theaterkunst. Damit begann mein Leben in und mit der Kunst.

War es in euren Familien Usus sich mit Kunst zu beschäftigen und gab es noch andere „professionelle“ Künstler*innen? Wenn ja: Wer war das und welche Kunst übten sie aus?

Kasija: Ja, wie ich schon erzählt habe, im Leben meine Mutter war der Tanz immer eine treibende Kraft. In ihrem Studio unterrichtete sie viele verschiedene Arten von Tanztechniken wie Aerobic, Jazz und zeitgenössischen Tanz.

Über die Jahre begann sie auch Pilates zu unterrichten, was sie auch heute noch tut. Das Studio 23 war und ist immer noch ein wichtiger Ort in der Stadt. Hunderte von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben dort irgendwann in ihrem Leben getanzt, sogar mein Halbbruder – für ein paar Saisons.

Meine Mutter ist nicht nur Tänzerin und Tanzlehrerin, sondern sie schreibt auch. Mir gefällt sehr gut, was sie schreibt und auch die Art und Weise, wie sie es tut. Es ist eine Art Langzeit-Tagebuch, in dem sie ihre Gedanken und Reflexionen über die Ereignisse in ihrem Leben niederschreibt und in dem sie sich zu den Problemen und Kontroversen im öffentlichen Raum der Stadt, in der sie lebt, äußert. Diese Texte sind privat und sozial, poetisch und aktivistisch, zerbrechlich, aber auch scharf und gewagt.

Auch wenn sie die Kunst nie in einem vollprofessionellen Sinne verfolgt hat, ist Vera eine wahre Künstlerseele, die einen Weg findet, künstlerische Ansätze mit allem, was sie tut, zu verbinden. Als ich mit ihr aufgewachsen bin, hatte ich das Gefühl, dass alltägliche Dinge zu einer Art künstlerischem Ritual werden können, wie zum Beispiel sich um den Haushalt zu kümmern, Essen zuzubereiten usw. und sogar die Art und Weise, wie wir mit anderen kommunizieren.

Ivan: In meinem Fall lautet die Antwort „nein“ oder „nicht wirklich“, es gab keine professionellen Künstler in unserer Familie.

Mein Vater wollte zwar immer Schriftsteller werden, aber sein Leben nahm einen anderen Verlauf. Schließlich schrieb er mehrere Bücher in einem ganz bestimmten Genre, eine wilde Mischung aus Belletristik, New-Age-Psychologie und seinen Gedanken und Betrachtungen über das Neue Testament.

Ich verdanke meinem Vater meine Liebe zur Literatur, denn als ich ein paar Monate alt war, klebte er kleine Kärtchen mit Buchstaben an die Wände der Wohnung, damit ich mich von der Wiege an an sie gewöhne.

Deshalb habe ich auch so schnell lesen gelernt und konnte schon viele Bücher lesen, bevor ich in die erste Klasse kam. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich angefangen habe, meine eigenen Sachen zu schreiben, aber er hat mich immer dazu ermutigt, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

Wann und wie habt ihr konkret bemerkt, dass es euch zur Kunst zieht – speziell zum zeitgenössischen Tanz, zum Schauspiel und zur Regie?

Kasija: Es gibt eigentlich keinen einzigen Moment in meinem Leben, der ohne Tanz und Kunst war. Als ich noch in Mamas Bauch war, hat sie Tanzunterricht gegeben und sobald ich laufen konnte, habe ich angefangen Tanzstunden im Studio zu nehmen. Das Studio 23 ist der Ort, an welchem ich im Grunde genommen aufgewachsen bin – ich habe das Gefühl, dass sich der wichtigste Teil meiner Kindheit genau dort abgespielt hat.

Ich war immer bei ihr, entweder beim Training oder schlafend in irgendeiner Ecke des Studios, während sie den Unterricht beendete. Ein Haufen Kinder, die wild herumspringen, rennen und tanzen; Gruppen, die im Studio ein- und ausgehen; laute Musik; meine Mutter oder eine andere Lehrerin, die versucht, das freudige Schreien und Lachen der Kinder zu übertönen; das Einstudieren und Üben verschiedener Choreografien; das gemeinsame Reisen in überfüllten Bussen zu verschiedenen Wettbewerben und Festivals; das Verbringen ganzer Tage in großen Hallen voller Tanzgruppen. Dies sind meine glücklichen Erinnerungen und Erfahrungen, die den Tanz zu einem untrennbaren Teil meines Wesens gemacht und meine weiteren Lebensentscheidungen geprägt haben.

Als es an der Zeit war, zu entscheiden, was ich nach der High School machen wollte, fühlte ich mich ziemlich verloren und unsicher, da ich mich nicht zu den „normalen“ Berufen hingezogen fühlte. Zu dieser Zeit gab es in Kroatien keine Tanzakademie und als ich im Gymnasium sagte, dass ich professionelle Tänzerin werden wollte, stieß ich auf viel Kritik und Skepsis. Aber meine Mutter fand heraus, dass es in Ljubljana eine neu eröffnete Tanzakademie gibt und meinte, dass diese vielleicht interessant für mich sein könnte. Ich bin ihr unendlich dankbar, dass sie mir in diesem Moment geholfen hat und mir die Möglichkeit eröffnete, dass der Tanz eine Vollzeitbeschäftigung sein kann und dass ich das Leben der Kunst als meinen Weg wählen kann.

Ivan: Wie ich bereits erwähnt habe, gab es bei uns zu Hause immer Literatur, wir hatten viele Bücher, einige Hundert, also war sie von frühester Kindheit an ein Teil meines Lebens.

Meine erste Begegnung mit dem Theater fand statt, als ich in der 9. Klasse war, ich spielte in einer Schulaufführung mit. Es war „Don Juan oder die Liebe zur Geometrie“ von Max Frisch. Ja, in der Tat, das war eine sehr unerwartete Stückwahl für ein Schultheater. Ich verstand damals nicht viel vom Leben und schon gar nicht von den Themen des Stücks, aber es machte mir Spaß, ein Kostüm zu tragen, ein Schwert zu halten und schöne Sätze zu sagen.

Im nächsten Jahr spielte ich eine andere Rolle, die Hauptrolle, es war auch ein großes Stück mit dem Titel „Der ältere Sohn“, von Wampilow, einem sowjetischen Autor.

Irgendwie war das Theater für mich nie eine Wahl. Es war einfach da – irgendwie und immer. Hunde werden mit dem Wunsch geboren einem Ball hinterherzulaufen. Sie lernen es nicht, sie erben es, sie sind einfach so veranlagt und irgendwann entdecken sie es in sich selbst. Ich glaube, ich habe mir auch nichts ausgesucht.

Meine Eltern haben meine Idee, ein professioneller Künstler zu werden, nicht ernst genommen. Mein Vater sagte wortwörtlich: „Deine Idee, Theater zu studieren, ist eine Tragödie für uns.“

Ja, wir haben uns deswegen viel gestritten. Außerdem zahlten sie mir eine beträchtliche Summe, damit ich einen Vorbereitungskurs für den Fachbereich Soziologie an der staatlichen Universität besuchte, aber ich habe diesen Kurs überhaupt nicht besucht. Stattdessen bin ich heimlich in die öffentliche Bibliothek gegangen, um dort Theatergeschichte für die Aufnahmeprüfung für ein Bachelor-Studium in Regie zu studieren.

Meine Eltern wissen bis heute nichts davon. Es war natürlich sehr beängstigend, denn die Verantwortung lag allein bei mir, die Konkurrenz war etwa zweihundert Leute pro Platz. Falls ich durchgefallen wäre, hätte ich zum Militärdienst gehen müssen. Das war eine sehr unangenehme Aussicht und als Wendung von mir wirklich ungewollt, denn der Militärdienst in Russland ist eine Abteilung der Hölle auf Erden, die junge Menschen bricht und sie für Jahrzehnte traumatisiert. Dieses Risiko bestand also. Aber irgendwie habe ich das Auswahlverfahren bestanden und wurde an der Universität angenommen.

Mit dem Tanz war es anders, ich beschloss mit siebenundzwanzig Jahren meine Karriere zu erweitern. Ich hatte einfach das Gefühl, dass ich etwas Neues brauche, etwas, von dem ich buchstäblich keine Ahnung hatte und mich herausforderte. Und so gab ich meinen gut bezahlten Job in Tallinn auf und ging nach Deutschland, um dort Tanz zu studieren.

Könntet ihr in Bezug auf eure Ausbildungen noch etwas mehr ins Detail gehen, es würde mich auch intersierren, welche Vorbilder euch prägten und ob es Lehrer*nnen gab, die für euch wegbestimmend waren?

Kasija: Sehr gerne, meine erste künstlerische Ausbildung absolvierte ich an der Tanzakademie in Ljubljana, wo ich 2014 mein Bachelor-Diplom in Tanz und Choreografie erwarb. Nachdem ich einige Jahre als Tänzerin gearbeitet hatte, schrieb ich mich für den Masterstudiengang für Bewegungsforschung an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz ein, den ich 2021 abschloss.

Das mit den Vorbildern und wichtigen LehrerInnen ist eine interessante Frage, denn ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Leben viele davon hatte und dass ich mich sehr leicht von Menschen in meinem Umfeld inspirieren und motivieren lassen kann. Ich kann mich an sehr viele verschiedene Situationen oder Dinge erinnern, die einige LehrerInnen gesagt haben, die in mir tiefe Denkprozesse auslösten. Und ich kann viele Beispiele dafür finden, bei denen ich bestimmte Fähigkeiten meiner KollegInnen sehr bewunderte.

Aber in diesem wahren Sinne, was Vorbilder sind, gibt es einige Menschen, die nichts mit dem Tanz zu tun haben und einige nicht einmal mit der Kunst, sondern mit dem Leben im Allgemeinen. Zum Beispiel hat der Filmregisseur David Lynch meinen künstlerischen Geschmack sehr beeinflusst.

Ich fühle mich nicht nur mit dem künstlerischen Universum seiner Filme verbunden und kann viel von ihm lernen, sondern ich habe auch eine enge Beziehung zu seiner Philosophie und seiner Herangehensweise an das Kunstschaffen. Für ihn sind kreative Ideen alles, sie bestimmen das Ausdrucksmittel, das er wählt. Er ist also nicht nur ein Regisseur, sondern auch ein bildender Künstler und Musiker. Ich bin da sogesehen ähnlich, indem auch ich verschiedene künstlerische Medien verwende, je nachdem welchen Impuls, welche Idee oder Vision ich habe. Manchmal sind das Tanz und Choreografie, oft aber auch das Schaffen von Skulpturen, Malerei, das Filmen und Schneiden von Videos usw.

Die zweite wichtige Person ist Alan Watts. Das Anhören seiner Vorträge und Reden hatte eine transformierende Wirkung auf mich. Sie öffneten mich für ein spirituelleres Verständnis der Existenz und ließen mich die Zusammenhänge zwischen allen Dingen erkennen. Diese Weltanschauung hat mir nicht nur geholfen viele schwierige persönliche Situationen zu überwinden, sondern hat auch die Art und Weise, wie ich an das Kunstschaffen und die künstlerischen Prozesse herangehe stark beeinflusst.

Ivan: Ich habe von meiner Akademie in St. Petersburg zwei Bachelor Abschlüsse, einen in Schauspiel und den anderen in Regie und zwei Master Abschlüsse: in Choreographie an der Folkwang Universität in Essen (D) und in Bewegungsforschung an der Anton Bruckner Privat Universität in Linz (A).

Die Theaterakademie war eine klassische Theaterausbildung, am ehesten vergleichbar mit dem Max Reinhardt Seminar in Wien. An der Folkwang habe ich gelernt, mich zu bewegen, ich habe viel Ballett und alten deutschen Moderntanz trainiert, Joos/Leeder-Technik, wir hatten dort auch tolle Workshops, die von Leuten aus der Akram Khan Company und Batsheva geleitet wurden, und von TänzerInnen, die mit Pina Bausch gearbeitet haben. Es war wirklich ein Vergnügen und eine Freude, drei Jahre in Essen-Werden zu verbringen, diesem kleinen, idyllischen Universitätsdorf voller StudentInnen und reicher deutscher RentnerInnen.

Die Bruckner-Uni war eine weit weniger spektakuläre Erfahrung, denn drei Viertel des Studiums fielen genau in die Zeit der Corona-Pandemie.

Wir saßen also in einem 14m2 großen WG-Zimmer und versuchten die DozentInnen durch ein ZOOM-Fenster zu verstehen. Aber ich lernte Kasija kennen und wir gründeten gemeinsam „Flirty Horse“; das ist wahrscheinlich der wahre Grund, warum ich 2019 in Linz gelandet bin. Außerdem habe ich in Linz meine akademische Master-Thesis geschrieben, meinen ersten wissenschaftlichen Text.

Aber zu LehrerInnen jeglicher Art hatte ich schon immer ein kompliziertes Verhältnis, das ist mein Triggerpunkt, der durch traumatische Erfahrungen entstanden ist. Es ist schwer für mich in der Kunst die Position eines Schülers einzunehmen. Einige meiner LehrerInnen fand ich zu konservativ und ich konnte ihren Urteilen nicht trauen. Einige andere reagierten nicht sehr sensibel auf meine Arbeit und ich sah mich gezwungen sie mit mir zu konfrontieren, um meine Individualität zu bewahren. Einmal in meinem Leben ließ ich mich wirklich von einem Lehrer leiten, was ich aber sehr bereut habe, denn es ist leider nichts Gutes dabei herausgekommen.

Es gibt jedoch große KünstlerInnen, die mich sehr beeinflusst haben, ich bewundere sie als schöne und inspirierende SchöpferInnen. Zu den in Europa bekannten Namen gehört die belgische Theatergruppe „Peeping Tom“ – ihre Produktion „MOTHER“ ist die berührendste Aufführung, die ich je gesehen habe. Meine Lieblingschoreografin ist Sharon Eyal, ich bin auch sehr inspiriert von Ohad Naharin und der Bewegungssprache von GAGA. Natürlich hat Pina Bausch eine große Rolle in meinem Leben gespielt, während meines Studiums an der Folkwang Uni kam ich ihrem Erbe sehr nahe. Wir wurden von den TänzerInnen ihrer Company unterrichtet und ich fuhr mehrmals nach Wuppertal, um ihre Stücke zu sehen, die dort immer noch aufgeführt werden.

 

Ivan du hast ja vorhin erwähnt, dass du Kasija in Linz kennengelernt hast, wann und wo war das und seid wann seid ihr ein Paar?

Kasija:. Ivan und ich haben uns im September 2019 kennengelernt. Es war gleich zu Beginn des Semesters, wir hatten uns beide für denselben Masterstudiengang eingeschrieben.

Wenn uns wer fragt, sagen wir immer: „Wir haben uns bei der Kaffeemaschine kennengelernt“ und so war es auch.

Am ersten Studientag war ich auf dem Weg zu dem Studio, in dem unsere Vorlesung stattfinden sollte. Als ich um die Ecke des Ganges bog, stand er neben der Kaffeemaschine: ein sehr großer, dünner, aber kräftiger Mann mit Glatze, der versunken in sich selbst ruhte und tanzte. Ich war fasziniert!

Ivan: Ja, wir trafen uns in Linz, der unromantischsten Stadt der Welt und zwar bei einem Kaffeeautomaten. Kasija hatte sehr lange Haare, mehr als einen Meter Haare, würde ich sagen. Und ja, meinen Kopf hatte ich damals tatsächlich kahl rasiert. Kasija warf die Münzen in den Automaten und ich tat so, als wollte auch ich einen Kaffee kaufen, dabei fragte ich sie, wie sie heißt. Unsere Beziehung begann sofort, aber es ist schwer zu sagen, wann genau wir ein Paar wurden, denn wir hatten einen holprigen Start.

Kasija: Ja, am Anfang war das alles ziemlich spontan und unbestimmt.

Ivan: Und in weniger als einem halben Jahr schlug dann die Pandemie zu und wir landeten gemeinsam in der Quarantäne. Das war auch eine unglaublich herausfordernde Zeit. Aber in diesen Monaten der Isolation gründeten wir „Flirty Horse“ und ein Jahr später haben wir geheiratet. Überall mussten noch die Corona-Regeln eingehalten werden und in Kroatien durften am Standesamt bei unserer Trauung nur acht Gäste anwesend sein.

Kasija: Nach nur einem Jahr und drei Monaten habe ich Vanja gefragt, ob wir vielleicht heiraten wollen. Das kam sehr unerwartet, aber er hat ohne zu zögern sofort ja gesagt. Und wir beschlossen, so schnell wie möglich zu heirateten. Unsere Hochzeit fand in Kroatien, mitten im größten Lockdown, statt. Es war kaum zu schaffen alle Papiere von der Botschaft zu erhalten, dann noch einen russischen Übersetzer zu finden und sogar einen Termin im Standesamt zu bekommen. Aber wir haben es geschafft!

Ivan: Das war 2021. Dann haben wir die Anton Bruckner-Uni abgeschlossen und sind nach Wien gezogen, in unser erstes Zuhause.

Kasija:. Und heuer im Januar hatten wir unseren dritten Hochzeitstag.

Was hat euch dazu bewogen beziehungsweise was hat zu eurer Entscheidung geführt nach Wien zu ziehen?

Kasija: Ich war unsicher, ob das eine Stadt für uns ist, aber Vanja hat mich überzeugt und so sind wir ein paar Monate nach unserer Heirat gemeinsam nach Wien gezogen.

Ivan: Ja, es war meine Initiative. Kasija war sich, wie sie sagt, nicht sicher, ich habe sie überzeugt oder besser gesagt überredet. Wien war seit meinem elften Lebensjahr mein Traum. Ich weiß nicht warum. Es war so ohne Grund, ich dachte nur, dass ich mich in Wien wohlfühlen würde. Und überraschenderweise fühle ich mich in der Tat sehr wohl hier.

Kasija war sich auch deswegen unsicher, weil wir hier niemanden kannten und wir hatten auch keine Jobangebote oder ähnliches. Aber ich habe daran geglaubt, dass wir alles finden werden, was wir brauchen.

Eine weitere lustige Tatsache ist, dass wir uns im Spätsommer 2019, bevor wir uns in Linz wirklich kennengelernt haben, zufällig auf der gleichen Party in Wien befanden, ohne uns zu sehen oder einander auch nur zu bemerken.

Vielleicht bedeutete das damals, dass wir gemeinsam in Wien leben sollten. Ich bin sehr froh, dass wir hier leben.

Was bedeutet eure Beziehung für euch in Bezug auf euer künstlerisches Schaffen?

Kasija: Die Beziehung zu Vanja (das ist die russische Koseform für Ivan) spielt für mich als Mensch und als Künstlerin eine große Rolle. Da wir beide Künstler sind, können wir ein Leben führen, das ganz und gar der Kunst gewidmet ist. Kurz bevor wir uns kennenlernten arbeitete ich in der Tanzkompanie des Linzer Landestheaters, mein Vertrag war ausgelaufen und ich befand mich an einem Scheideweg in meinem Leben.

Mir war nicht mehr danach. nur als Tänzerin in einer Kompanie zu arbeiten, ich wollte mehr studieren, eigene Projekte machen, multimediale und interdisziplinäre Kunst erschaffen und neue Möglichkeiten und Chancen erkunden. Ich hatte Träume und Ambitionen, aber ich wusste nicht so recht, wo ich anfangen und wie ich das alleine schaffen sollte.

Die Begegnung mit Vanja brachte eine unglaubliche Menge an Energie und Motivation in mein Leben und alles begann möglich zu werden. Ich bewundere ihn als Künstler und Schöpfer sehr und fühle mich sehr motiviert, mit ihm zu arbeiten. Aber es gibt auch Dinge, die wir nicht gemeinsam machen, aber er unterstützt mich auch dabei und seine Bewunderung für mich gibt mir viel Selbstvertrauen, Inspiration und Freiheit.

Ivan: Für mich wäre es unrichtig unsere Beziehung und die Kunst getrennt zu denken, es wäre nicht richtig zu sagen, dass das eine das andere unterstützt oder das eine das andere stört oder das eine das andere beeinflusst, nur weil wir uns so nahe sind. Die Kunst und unsere Beziehung sind im Grunde dasselbe.

Kasija und ich sprechen viel über Kunst und über unsere Arbeit und wann immer wir gemeinsam oder getrennt arbeiten, ist die Kunst der Inhalt unseres Lebens, sie nimmt unseren gemeinsamen Raum ein. Ich bin sehr glücklich darüber, dass wir das Leben auf die gleiche Weise verstehen und unser Leben ganz der Kunst gewidmet ist.

War es zuerst die Liebe, durch die ihr euch gefunden habt oder war es die Kunst, die euch zusammengeführt hat und daraus erwuchs dann eure Liebe?

Kasija: Darauf werden wir beide wahrscheinlich ganz unterschiedlich antworten. Für mich begann unsere Liebe, als wir zusammen Kunst machten.

Sobald wir anfingen zu studieren arbeiteten wir gemeinsam an den verschiedensten Projekten. Und nach nur einem Semester kam ja schon die Pandemie und der Rest unseres Studiums fand online statt. Das gab uns die unglaubliche Gelegenheit, uns besser kennenzulernen.

Wir hörten alle Vorlesungen gemeinsam zu Hause und verbrachten dann auch noch die Freizeit zusammen. Wir redeten endlos über die Kunst und das Leben und schließlich entwickelte sich eine sehr enge und intime Beziehung zwischen uns. Wir haben auch in dieser düsteren Zeit weiter Kunst gemacht und mehrere Projekte ins Leben gerufen, eines davon war das Kunstkollektiv „Flirty Horse“.

Ivan: Für mich war alles gleichzeitig da. Als wir uns kennenlernten, schrieben wir ein Manifest. Wir waren beide sehr begeistert von der Idee, die hinter „Flirty Horse“ stand, dabei war und ist eine unserer wichtigsten programmatischen Aussagen „ein Künstler trennt nicht zwischen Leben und Kunst“. In einem großen metaphysischen Sinn haben wir beides nicht getrennt – es war eine Romanze, aber gleichzeitig ein künstlerisches Tandem.

Für mich haben Kunst und Liebe die gleichen Regeln, die gleichen Fallen und führen zur gleichen Glückseligkeit. Kasija war in diesen Dingen immer radikaler als ich, aber auch irgendwie ängstlicher und doch wagemutig zugleich. Es ist ein Paradoxon. Oder auch nicht. Aber ich liebe das an ihr. Sie wollte verrückte Sachen machen, „Flirty Horse“ verdankt seine ganze Verrücktheit Kasija. Sie war immer wie eine vibrierende Basssaite. Als wir uns kennenlernten, war das die Zeit des Ausbruchs, der künstlerischen Explosion.

Aber es war eine Explosion in einem Wasserglas – ich vermute, alle erinnern sich, wie es während der Corona-Zeit aussah. Wir konnten nirgendwo auftreten. Dann kam Kasija mit der Idee von „Perfect Sense“ – ein Duett, in dem wir uns dreizehn Minuten lang an der Grenze des Anstands küssen und berühren.

Wir zeigten das Stück zum ersten Mal mitten in der Pandemie, denn wir durften uns küssen, weil wir aus einem Haushalt stammten, aber unser Publikum sollte die Masken aufbehalten und drei Meter Abstand voneinander halten. Es war äußerst surreal. Diese gefangene, eingesperrte Verrücktheit war der Inhalt unserer Liebe, als wir uns kennenlernten. Jetzt ist sie gereift, und unsere Kunst ist mit ihr gereift.

Wie kam es nun genau zur Gründung von „Flirty Horse“, ist das euer erstes gemeinsames Art Collective? Beteiligen sich daran auch noch andere Künstler*innen?

Kasija: Ja, „Flirty Horse“ ist unser erstes Kunstkollektiv, das wir gemeinsam gegründet haben. Die Idee dafür hatten wir Anfang 2020, als wir noch in Linz lebten. In dieser Zeit, in der wir mit all unseren FreundInnen, MitbewohnerInnen und KollegInnen in der Isolation gelandet sind, war es ja unmöglich, öffentlich Kunst zu machen.

Flirty Horse“ war unser Versuch weiterzuarbeiten, uns auszutauschen, uns virtuell zu treffen und Kunst zu schaffen. Wir erstellten ein Manifest, versammelten eine ganze Gruppe verschiedener KünstlerInnen um diese Idee herum und führten mehrere Projekte durch: eine Labyrinth-Webseite, drei experimentelle Filme, eine ortsspezifische Live-Performance in einer Bar.

Ivan: Damals war „Flirty Horse“ eine winzige, aber chaotische und unorganisierte Studentenbewegung. Wir hatten etwa neun Mitglieder. Einige großartige Dinge sind dabei herausgekommen zum Beispiel war einer der Experimentalfilme ein echtes Gemeinschaftswerk: Jedes Mitglied drehte eine fünfminütige Solo-Episode, und der Film war eine Art Zusammenfassung von kurzen Videogeschichten. Aber Kasija und ich waren der Kern der Sache, wir haben versucht die anderen mit unseren Ideen anzustecken, aber das hat nur teilweise funktioniert.

Einerseits waren einige unserer Ideen zu radikal oder zu naiv, andererseits war es ein Kollektiv von StudentInnen in der Corona-Quarantäne: einige von ihnen hatten eine Depression, andere verliebten sich ineinander und entliebten sich dann wieder, manche waren aufs Feiern fixiert, andere waren einfach zu unsicher, um wirklich Kunst zu machen. Und Linz ist so klein, so langsam, selbst ohne Corona ist die Gemeinschaft dort winzig.

Kasija: Als wir dann nach Wien gezogen sind haben wir „Flirty Horse Art Collective“ offiziell als Verein registrieren lassen. Wir sind der Kern des Kollektivs und laden je nach Projekt weitere Leute ein, mit uns zusammenzuarbeiten.

Ivan: Ja, wir haben in Wien „Flirty Horse“ neu überdacht und neu eröffnet. So besteht „Flirty Horse“ heute eigentlich nur noch aus Kasija und mir und viele andere KünstlerInnen werden zu Gästen von „Flirty Horse“. Vielleicht wird sich das eines Tages ändern und wir werden eine größere feste Gruppe haben – wir sind offen für Veränderungen.

Worum geht es euch in eurem Kunstschaffen, könnt ihr darauf näher eingehen, damit sich unsere Leser*innen ein genaueres Bild davon machen können?

Kasija: In unserer künstlerischen Praxis und in unseren Projekten befassen wir uns mit Themen wie: persönliche Identität – Hinterfragung der Erscheinungsformen und Folgen der Identifikation mit verschiedenen Rollen, die wir im Laufe des Lebens bewusst oder unbewusst verkörpern und derjenigen, die uns auferlegt werden; die Komplexität der menschlichen Innenwelt – Umgang mit Gedanken, Gefühlen, Überzeugungen, persönlichen Prozessen und Traumata; Antagonismus zwischen Intimität und Autonomie in engen zwischenmenschlichen Beziehungen.

Oft wird unsere eigene Beziehung zum Gegenstand der künstlerischen Forschung und der öffentlichen Aufführung.

Unsere künstlerische Praxis ist vielschichtig und interdisziplinär. Je nach Idee und Inspiration greifen wir zu einem geeigneten Ausdrucksmittel, und unsere Projekte umfassen hauptsächlich Text, Bewegung, Schauspiel, Musik, Video und visuelle Elemente. Unsere Basis ist die Schaffung von Performances und diversem Aufführungsmaterial – Tanz und Schauspiel. Aber manchmal ist Video ein geeigneteres Medium, weil das Schneiden und das Bearbeiten kreative Möglichkeiten eröffnet.

Doch neben diesen gemeinsamen Prozessen und Kreationen hat jeder von uns auch seine eigenen. Ivan ist Autor von Theaterstücken und Romanen und ich bin als Autodidaktin bildende Künstlerin und mache Lichtskulpturen.

Ivan: Ich glaube, unsere Kunst ist der Dichtung ähnlich. Wir sehen die Welt als Poesie. Unsere Kunst ist meistens poetisch. Ich denke, das ist die präziseste Anleitung für das Publikum, wie es unsere Stücke betrachten kann oder soll. Wie beim Lesen von Gedichten.

Wie Alexandr Blok, ein großer russischer Dichter, sagte, ist ein Dichter ein Mensch, der alles bei seinem richtigen Namen nennt, der einer lebendigen Blume ihren Duft stiehlt. Für mich ist es sehr wichtig, in meiner Arbeit etwas Unsichtbares zu berühren, einige Verbindungen, die existieren, aber nicht offensichtlich sind. Meine Arbeit als Künstler besteht darin, sie zu entdecken und für andere Menschen sichtbar zu machen. Ich möchte also, dass mein Publikum sie sieht, ich möchte, dass mein Publikum fühlt, was ich fühle.

Ich möchte, dass sie sagen: Ja, ich fühle diese Verbindung, es ist auch in meinem Leben so. Nach der Premiere meines Stücks „Der verlorene Geburtstag“ gestand mir eine der Zuschauerinnen: „Du hast in deinem Stück meine Geschichte erzählt“ – und genau das ist der Sinn meiner Arbeit. Sehr ehrlich zu sein, gnadenlos ehrlich mit dem Publikum, so dass die ZuschauerInnen ehrlich mit sich selbst und mit mir sein können. Und in diesem Moment sind wir nicht einsam, existenziell nicht einsam.

Was sind die tiefsten Motive eures Kunstschaffens, ist es ein Instrument, um der Welt eure Ansichten mitzuteilen oder … ? Wer ist Kasija Strelkin als Künstlerin, wer ist Ivan Strelkin als Künstler? Warum tut sie, was sie tut, warum tut er, was er tut?

Mich interessiert auch euer Zugang zu Musik und Texten und welchen Stoff ihr bevorzugt, sind es eher Dramen, klassische oder zeitgenössische Stücke und wie erarbeitet ihr euch die Rolle beziehungsweise ein Stück?

Kasija: Ich bin eine sehr intuitive und affektive Schöpferin. Ich habe ständig Geistesblitze. Wenn ich im Laufe des Tages auf einer Straße, in einem Park oder an einem anderen öffentlichen Ort etwas sehe oder höre, das mich fasziniert, stelle ich es mir oft auf der Bühne vor.

Teile von verlassenen Baustellen, nackte Winterzweige oder gefällte Bäume könnten Teil einer Skulptur oder eines Bühnenbilds werden; eine Person auf der Straße könnte eine interessante Figur werden; fließende Kompositionen von Menschen im öffentlichen Raum können zur Partitur für eine Choreografie werden.

In diesem Sinne sehe ich die Welt immer durch die Linse von Kunst, als ob alles im Leben potenziell Material für eine Schöpfung ist. Ich habe das Gefühl, dass alle Eindrücke, die ich im Leben durch meine Sinne sammle, irgendwo in meinem Wesen, meinem Geist und meinem Körper gespeichert werden. Dass sie sich dort mit anderen, bereits gespeicherten Eindrücken verbinden und sie schließlich durch eine schöpferische Handlung nach außen dringen müssen. Es ist so, als ob Kunst nicht wirklich eine bewusste Entscheidung ist, über die ich Kontrolle habe, sondern eher ein unvermeidlicher Zustand des Seins, der Existenz und der Interaktion.

Ich würde mich als multidisziplinäre Künstlerin bezeichnen. Für mich bedeutet das, dass ich versuche, mich ganz meinen eigenen Inspirationen und Visionen hinzugeben, dass ich durch das Hören auf die innere kreative Stimme, die aus höheren Ebenen kommt, den Ideen für eine Kreation erlaube, das Medium und das Material zu bestimmen, durch das sie ausgedrückt werden wollen. Und deshalb drücke ich mich manchmal durch Tanz und Bewegung aus, manchmal durch Text und Schauspiel oder reine Performance, manchmal male oder zeichne ich etwas, baue oder modelliere, nehme auf, filme oder schneide, und manchmal segle ich einfach durch mein eigenes inneres Universum, wo ich durch Kontemplation und Meditation diesen esoterischen Ort erreiche, eine Quelle aller Kreativität.

Von diesen inneren Reisen komme ich immer mit neuem Wissen zurück, gestärkt und inspiriert für neue Kreationen. Bewegung und Tanz sind jedoch die intimsten Ausdrucksformen meiner Seele. Für mich ist der Tanz als Bewegungskunst die Qualität und die Eigenschaften des Lebens selbst, er ist eine Art und Weise, sowohl die eigene innere Welt als auch die Welt außerhalb wahrzunehmen, zu erleben und mit ihr zu kommunizieren.

Noch wichtiger als das ist, dass der Tanz, aber auch der Ausdruck durch andere Künste, uns in den gegenwärtigen Moment bringen kann, uns mit unserer wahren Natur, mit der Welt um uns herum und schließlich mit dem Ewigen und Göttlichen verbinden kann.

Ivan: Meine Kunst ist mehr ein Bekenntnis, als eine Predigt. Ich liebe die Menschen, ich bin neugierig auf sie und wenn ich etwas über sie verstehe, mache ich ein Stück.

Außerdem macht es mir sehr viel Spaß, mit DarstellerInnen zu arbeiten, vor allem mit SchauspielerInnen. Bei SchauspielerInnen ist man nie sicher, man weiß nie, was sie in der nächsten Minute tun oder sagen werden. Es ist sehr schwierig, sehr kompliziert, ein*e SchauspielerIn zu sein.

SchauspielerInnen sind gleichzeitig MusikerInnen und ihre eigenen Instrumente, sie spielen quasi auf sich selbst. Um es genauer zu sagen, spielen sie auf ihrer eigenen Psyche, wie auf einem Instrument. Das ist unglaublich schwer. Ein*e SchauspielerIn sollte gleichzeitig eine sehr stabile und eine sehr instabile Persönlichkeit sein.

Jede Aufführung ist eine Reise für eine*n SchauspielerIn, eine Reise in das eigene Unterbewusstsein. Das fasziniert mich. Es ist sehr interessant, SchauspielerInnen auf dieser Reise zu begleiten, sie irgendwohin zu bringen, wo keiner von uns jemals gewesen ist, um gemeinsam neue Dinge über das Leben zu entdecken. Ich habe das Gefühl, dass es etwas Echtes ist, etwas, das zählt. Das motiviert mich, das zu tun.

Für mich ist mein Kunstschaffen ein Instrument der Forschung. Es ist die Art und Weise, wie ich die Welt verstehe. Wenn ich etwas über das Leben verstehe, wenn ich eine neue Verbindung zwischen zwei Dingen entdecke, die vorher nichts miteinander zu tun zu haben schienen, nur dann kann ich ein Stück darüber schreiben. In der Vergangenheit habe ich sowohl mit klassischen als auch mit zeitgenössischen Texten gearbeitet: Zu den klassischen Autoren gehören F. Garcia Lorca, Oscar Wilde, Max Frisch, Shakespeare.

Mein Lieblingsautor der Gegenwart, dessen Stück ich inszeniert habe, ist Martin McDonagh. Aber neuerdings schreibe ich die Texte für meine Stücke selbst. Ich schreibe professionell seit 2017, da habe ich ein paar Dialoge für mein Stück „Too late to die young“ geschrieben, heute fühlt es sich für mich authentischer an, die literarische Dimension meiner Stücke selbst zu gestalten.

Schreiben ist für mich immer sehr persönlich und ich habe das Gefühl, dass ich durch meinen eigenen Text ehrlicher sprechen kann, als durch den Text einer anderen Autorin oder eins anderen Autors. Meine jüngsten Werke sind auf diese Weise entstanden: „Der verlorene Geburtstag“ und „Das Solo der vergewaltigten Geige“ habe ich selbst geschrieben.

Ich arbeite immer mit realen Geschichten, realen Menschen, aber ich verwandle das dokumentarische Material in Fiktion, gebe ihm eine künstlerische Form. Einige der realen Geschichten sind meine eigenen, persönlichen Erfahrungen, einige habe ich gehört oder gesehen.

Gelegentlich arbeite ich auch mit so genannten Literaturmodellen. Das ist wie bei Aktmodellen für Zeichnen. Ich lade Menschen ein, meine Literaturmodellen zu werden. Sie erzählen mir vertraulich ihre Geschichten, und dann werden ihre Geschichten zu Literatur. Die echten Namen werden nie erwähnt, die Realität bleibt immer vertraulich, sogar Kasija erzähle ich nichts von diesen Gesprächen. Auch die entstandene Figuren sind nicht mit den Modellen gleichzusetzen: Manchmal bildet eine echte Person die Grundlage für zwei oder sogar drei Charaktere, und manchmal verschmelzen zwei oder drei echte Personen zu einer Figur. Sowohl „Der verlorene Geburtstag“ als auch „Das Solo“ wurden auf diese Weise geschrieben.

Wirkt ihr, abgesehen von euren eigenen Filmen, die ihr produziert, auch als Darsteller*in in Filmen von anderen mit?

Ivan: Wir haben beide vor mehr als einem Jahr in dem Film „17 km“ von Harald Hund mitgespielt, jetzt am 17. Februar gehen wir zur Premiere. Für mich ist das ein Beispiel für eine sehr lange Zeit. Kasija hat mehr Bezug zum Kino, sie hat selbst viele experimentelle Filme gemacht.

Kasija: Ja, ich mag es sehr, mit dem Medium Film zu arbeiten. Der Prozess des Filmens und anschließenden Bearbeitens bietet einige Möglichkeiten, die in der Realität oder bei einer Live-Performance nicht möglich sind.

Ich habe mehrere experimentelle Filme gedreht und jeder von ihnen lädt die ZuschauerInnen in eine surreale, psychedelische Fantasiewelt voller verzerrter Formen, verzögerter Bewegungen, ineinander übergehender und sich verwandelnder Formen, pulsierender Farben und immersiver Klangwelten ein.

Zusammen mit Vanja habe ich auch mehrere Kurzfilme gedreht und mit einem haben wir sogar am INSTANTS 36 Festival in Salzburg teilgenommen.

Wo arbeitet ihe, wo finden eure Proben statt, wo führt ihr eure Performances und Stücke auf?

Kasija: Als freischaffende Künstler müssen wir mobil und nomadisch sein, wir wechseln die Proberäume und treten an verschiedenen Orten in der Stadt auf.

Wir waren mit unseren Stücken im Studio Moliere, im Spektakel, im Off Theater, am Arbeitsplatz, im WUK, im Dschungel Wien, im Pygmalion Theater, in ein paar anderen kleineren Studios. Unsere Proben halten wir oft auch in unserem Wohnzimmer ab.

Ivan: Jedes Projekt ist eine neue Geschichte, ein neues Leben. Wir suchen immer neue Veranstaltungsorte und neue Gelegenheiten, um aufzutreten.

Mit einigen Spielstätten hatten wir aber schon mehrmals eine Zusammenarbeit. Zum Beispiel mit dem Spektakel Wien – auf dieser kleinen Bühne sind wir schon zwei Mal aufgetreten, jetzt wird die Premiere von „Das Solo der vergewaltigten Geige“ das dritte Mal sein. Eine tolle Erfahrung habe ich mit dem Pygmalion Theater gemacht, dort fand im November 2023 die Premiere von „Der verlorene Geburtstag“ statt. Mehrmals sind wir im OFF Theater im Rahmen des von Bianca Braunesberger und cie.Tauschfühlung organisierten Tanzfestivals aufgetreten.

Wie gestaltet sich eure augenblickliche Lebenssituation, wie ist euer Lebensgefühl? Was sind eure Hoffnungen, Ambitionen und Ziele?

Kasija: Wie ich bereits erwähnt habe, sind wir beide freischaffende Künstler, diese Tatsache bestimmt sehr viele Aspekte unseres Lebens. Freiberufler zu sein bedeutet im Grunde genommen, ständig zu arbeiten, immer entweder in irgendwelchen Projekten engagiert zu sein, eigene Projekte zu entwickeln oder auf der Suche nach neuen Möglichkeiten zu sein. Diese Art zu leben kann ziemlich anstrengend und beängstigend sein, weil sie nicht die typische Sicherheit in einem existenziellen Sinn bietet.

Aber wenn wir es schaffen, uns über Unsicherheiten und Erwartungen zu erheben, ist die Art und Weise, wie wir unser Leben leben, unglaublich schön. Ich sage das, weil wir tatsächlich genau das tun, was wir wollen und wählen, was wir als unsere Berufung empfinden, wir machen unsere Kunst. Und dann ist es nicht schwer, sich zu engagieren und sich allem, was wir tun, voll und ganz hinzugeben, mit dem ganzen Geist, dem Herzen und der Seele.

Ich bin sehr dankbar, dass ich so leben kann, dass ich mich nicht von dieser materiellen Welt erdrückt und zermalmt fühle, von all der Hektik und dem Wahnsinn, vom Stress der ständigen Produktivität Handelswaren herzustellen und der damit verbundenen Profitgier.

Hoffnungen, Ambitionen und Ziele? Ja, ich habe einige. Ich würde gerne mehr unterrichten, nicht nur mit Profis arbeiten, sondern die Freude, die Schönheit und alle anderen Vorteile von Bewegung und Tanz an so viele Menschen, wie nur möglich weitergeben und teilen. Ich möchte also Klassen, Workshops und Kurse für verschiedene Gruppen und Menschen organisieren. Ich möchte auch mehr Raum und Zeit in meinem Leben für die bildende Kunst, für meine leuchtenden Skulpturen schaffen. Ich habe das Gefühl, dass im Moment ein Teil von mir das Bedürfnis hat, diese Art von Arbeit gründlich auszuführen.

Dies sind einige andere größere oder kleinere Ambitionen und Ziele, aber am wichtigsten istmir,, dass ich wirklich Beziehungen und Verbindungen zu den Menschen in dieser Stadt aufbauen möchte, um irgendwie zu verstehen, was ich anbieten kann, was für meine Umgebung von Nutzen und Interesse sein kann.

Ivan: Ich fühle mich in diesem Jahr sehr inspiriert – ich habe mehrere Projekte geplant, über die ich mich sehr freue. Eines habe ich schon erwähnt: „Das Solo der vergewaltigten Geige“.

Außerdem bin ich gerade für das Finale des Theater Drachengasse Nachwuchswettbewerbs angenommen worden, gemeinsam mit Bianca Braunesberger und Barbara Angermaier. Wir werden eine 15-minütige Skizze des Stücks „Die Düntzer Rhapsodie“ erarbeiten, die sich mit dem Thema der Beziehungen zwischen Stadt und Dorf in Österreich beschäftigt. Im Mai wird es im Theater Drachengasse zusammen mit den Präsentationen der anderen FinalistInnen aufgeführt werden.

Dann hoffe ich auf die Premiere eines zeitgenössischen Opernprojekts im Herbst. Generell wollen wir mehr Projekte machen, uns stärker in die Wiener Kunstszene integrieren und ab Herbst auch mit dem Unterrichten beginnen. Kasija hat viele Ideen für Bewegungskurse und ich würde gerne Schauspiel und Regie unterrichten.

Was das Persönliche betrifft: Ich bin sehr glücklich mit dem Ort und wo ich jetzt bin. Ich bin viele Jahre herumgereist und mit Kasija, hier in Wien, fühle ich mich endlich wie zu Hause. Ich würde gerne hier bleiben, um hier unser Leben aufzubauen. Ich weiß nicht, ob ich bestimmte Ambitionen oder Ziele habe – ich bin sehr glücklich mit dem Leben, das wir jetzt führen und ich würde gerne diesen Weg weitergehen.

Gehören für euch soziales Engagement und/oder gesellschaftspolitische Themen und Kunst zusammen?

Kasija: Kunst ist in gewisser Weise unweigerlich ein Spiegelbild der Umgebung, aus der sie hervorgeht. Kunst, egal in welcher Form, ist meist öffentlich und daher kaum von gesellschaftspolitischen Strukturen zu trennen,

Dennoch ist es für mich sehr wichtig, diese Verbindung und Interdependenz als eine poetische zu erhalten und nicht unbedingt mit aktivistischen Absichten zu füllen.

Was ich damit meine, lässt sich vielleicht am besten mit unserem „Flirty Horse“ MANIFEST demonstrieren:

A Flirty Horse is the beginning and the end. A Flirty Horse didn’t become a Flirty Horse. A Flirty Horse was born a Flirty Horse. Foxes have dens and birds have nests, but a Flirty Horse has no place to lay her head. She chooses her fate like a dress. She just puts it on and goes out. A Flirty Horse has no fear, no shame, no vanity; she has no doubts, but she is never sure. A Flirty Horse never stops, as time never stops. Unless it does. But a Flirty Horse goes on nevertheless. A Flirty Horse doesn’t believe in names and titles, because she knows: everything is connected. Everyone can be a Flirty Horse.

Ivan: Ja, natürlich, sie gehören zusammen. Die Kunst steht in enger Beziehung zur sozialen Agenda und zu politischen Themen. Mein Gefühl ist jedoch, dass die Kunst größer ist, als die Politik und dass sie auch eine andere Aufgabe hat.

Ich denke, dass die Kunst eine Quelle der absoluten Liebe, des Pazifismus, der Akzeptanz und der Neugier gegenüber dem Anderssein ist.

Die Kunst wählt keine Seiten. Es liegt in der Natur der Kunst, Schmerzen zu heilen, unterdrückte Emotionen freizusetzen, Menschen zusammenzubringen, sie einander näher zu bringen, es geht um das Menschsein und hier zählt jede und jeder.

Aber Kunst kann auch missbraucht werden – sie kann zur Förderung von Aggression, zur Rechtfertigung von Gewalt usw. eingesetzt werden, das ist für mich inakzeptabel. Und ich glaube, hier liegt die soziale Verantwortung der Autorin oder des Autors – zu sehen, in welchem Kontext ihre beziehungsweise seine Werke erscheinen, was sie im Moment bedeuten, wie sie klingen.

Für mich ist es immer noch eine sehr komplizierte Frage, was auf der Bühne gezeigt werden darf und was nicht, aber ich glaube, dass Kunst auf keinen Fall Gewalt, Diskriminierung oder Unterdrückung jeglicher Art fördern darf.

Was bedeuten euch die Begriffe Familie und Heimat?

Kasija: Familie ist für mich ein komplexes Thema, mit dem ich mich im Laufe meines Lebens in unterschiedlichster Weise auseinandergesetzt habe. Als Mitglied meiner Familie, konnte ich die ganze Palette an Situationen, Gefühlen und zwischenmenschlichen Interaktionen erleben. Einige davon waren ziemlich schädlich, voller Schwere und Aggression und viele waren unglaublich schön, freudig und liebevoll.

Aber alle, ob angenehm oder unangenehm, waren sehr wichtige und bedeutungsvolle Erfahrungen, die mich viel über die menschliche Natur gelehrt haben. Indem ich meine Familie und mich selbst innerhalb meiner Familie beobachtete, konnte ich sehen, wie bestimmte Verhaltensmuster, Umgangsformen und sogar Traumata von Generation zu Generation weitergegeben werden. Daraus habe ich gelernt, wie wichtig es ist, dies zu erkennen und bestimmte Werkzeuge zu entwickeln, um all das zu überwinden und zu ändern.

Ich habe verstanden, dass jede neue Generation in einer Familie das Potenzial, aber auch in gewisser Weise die Verantwortung hat, einige traumatische und negative Dinge zu heilen, die sich über Generationen angesammelt haben. Und wenn uns das gelingt, dann bekommen alle unsere lebenden und verstorbenen Vorfahren etwas Frieden und Auflösung. Eine Person, die nicht nur meine Mutter, sondern auch meine ewige Lehrerin, mein erster Guru ist, hat mich dazu gebracht, die Dinge auf diese Weise zu sehen.

Und als Vanja und ich beschlossen, zu heiraten und eine Familie zu gründen, wurden so viele dieser ererbten Familienmuster und Traumata offensichtlich, aber diese neue Beziehung bietet eine unglaubliche Gelegenheit, sich ihrer bewusst zu werden, sie aufzulösen und sich von ihnen zu heilen.

Was den Begriff Heimat betrifft, so kann ich nicht sagen, dass ich eine ausdrückliche emotionale Reaktion darauf habe. Nationale oder ethnische Identität ist nichts, womit ich viel zu tun habe. Ich fühle, dass die Zeit, der Ort, die Mentalität, die Umgebung und die Umstände, in denen ich geboren wurde, ein Teil von mir sind, weil ich dort und aus diesem Material geschaffen wurde. All diese Dinge sind wie Teile eines Puzzles, sie sind irgendwo in mir, kleine Teile in einem großen Bild, das ich bin. Sie sind ein Teil von mir, sie gehören zu mir und nicht ich zu ihnen.

Mit anderen Worten: Heimat und all ihre sozioökonomisch-politisch-national-ethnischen Erweiterungen sind nicht etwas, mit dem ich mich identifiziere oder zu dem ich gehöre, aber einige ihrer Aspekte, Merkmale, Eigenschaften und Qualitäten sind Teile von mir, und ich versuche, mir sehr bewusst zu machen, wie dies mein Denken und Handeln in der Welt bestimmt.

Ivan: Ich habe keine Heimat mehr. Es ist keine radikale Entscheidung, die ich getroffen habe, es ist einfach so, wie es in der Tat ist. Es war keine Wahl, es war eine Folge von Entscheidungen, die weniger bedeutsam schienen, die mich aber hierher führten, wo ich jetzt bin.

Ich habe fünfundzwanzig Jahre meines Lebens in Russland gelebt, und ich habe es nie besonders gemocht. Ich habe sentimentale Erinnerungen an meine Heimatstadt und an die Tage meiner Jugend, aber das ist etwas Persönliches und hat nichts mit dem Konzept der Heimat zu tun.

Dann lebte ich mehr als zehn Jahre lang in anderen Ländern. Estland, Deutschland, Österreich. Außerdem bin ich viel durch Europa gereist, von den Niederlanden bis nach Kroatien. Jede Verbindung mit der russischen Kultur in mir löste sich auf. Ich habe nur noch einen Freund aus St. Petersburg, mit dem ich zweimal im Jahr per Zoom telefoniere.

Es gibt neue Wörter, die in der russischen Sprache aufgetaucht sind, seit ich weg bin. Ich stolpere im Internet über sie und manchmal weiß ich nicht, was sie genau bedeuten. Dann natürlich der Krieg in der Ukraine, das monströse Verbrechen, das die letzten Reste meiner Sentimentalität gegenüber Russland zerstört hat. Es ist auch entsetzlich, was jetzt im Lande passiert – Propaganda, Verhaftungen, Mobilisierung. Das ist sehr traurig für mich. Aber wie ich schon sagte, hat meine Realität schon seit mehr als zehn Jahren nichts mehr mit Russland zu tun. Ich fühle mich als Bürger der Welt. Ich glaube, wenn ich in China oder in Argentinien leben würde, würde ich Europa als meine Heimat empfinden. Ich glaube nicht, dass ich Österreich jemals als meine Heimat empfinden werde, aber als Zuhause – ja, das glaube ich. Und das ist für mich genug.

Familie ist für mich Kasija, unser Hund Arlie, unser Leben, unsere Pläne für die Zukunft. Es ist kein Begriff für mich, es ist sehr konkret. Kasija und Arlie.

Und schon sind wir bei der letzten Frage: Was sind eure Ziele, was möchtet ihr noch erreichen, gibt es Pläne für die Zukunft?

Flirty Horse“ wird viele unglaubliche Projekte hervorbringen, das ist der Plan! Außerdem träume ich davon in Wien einen Raum für junge Theaterregisseure zu eröffnen, es gibt so viele Räume für Tanz und Performance, aber nicht wirklich einen für Schauspieltheaterleute. Wir wollen auch eine Schule für darstellende Kunst eröffnen – den ersten Schritt planen wir im Herbst 2024. Und dieses Jahr werden wir unsere Kurse für Bewegung und Schauspielkunst für Interessierte auf jedem Niveau eröffnen.

Ich danke euch beiden sehr herzlich für dieses Interview. Ivan, in ein paar Tagen wird dein neuestes Stück in Wien im Spektakel uraufgeführt, möchtet du darüber noch etwas sagen?

Ja, sehr gerne, ich möchte die Leser*innen zur Uraufführung meines neuen Stückes „Das Solo der vergewaltigten Geige“ einladen.

Ich habe eine Geschichte über sieben völlig unterschiedliche Menschen geschrieben, die sich in Wien treffen, aber keiner von ihnen kommt ursprünglich aus Wien. Es ist ein Stück über Migration, Identitätswechsel, es geht auch um Tod und Erinnerung, es hat eine pazifistische Botschaft. Aber trotz allem ist es ein poetisches Stück, ja, es ist ein episches Gedicht über gewöhnliche Menschen von heute – Menschen, die jeden Tag durch die Straßen Wiens gehen.

Es geht auch um Schmerz. Sie wissen aus der Mathematik, dass Unendlichkeiten verschiedene Größen haben? Zum Beispiel ist die Unendlichkeit der Bruchzahlen viel größer, als die Unendlichkeit der ganzen Zahlen. Im Grunde ist sie unendlich größer. Ich glaube, das Gleiche gilt für den Schmerz. Menschen können sich unendlich verletzt fühlen, aber für jeden Menschen bedeutet die Unendlichkeit etwas anderes.

In Wien kann man Menschen aus vielen verschiedenen Kulturen treffen und man kann sehen, wie unterschiedlich ihre Unendlichkeiten sind.

Also, am 01.03. und am 02.03.2024 gibt es im Spektakel um 19h30 ein Stück über all diese Dinge. Bitte kommt vorbei und bringt eure Freunde mit.

Infos:

Webseite www.flirtyhorse.com

Facebook: https://www.facebook.com/flirtyhorse

Instagram: https://www.instagram.com/flirty.horse

Videolinks:

Verliebte Tiere (Trailer)

https://vimeo.com/786672850/de7cc80c3b?share=copy

Once You Glimpsed in the Corner of My Eye (Trailer)

https://vimeo.com/755224932/fbece43a96?share=copy

Essential Memory (short piece)

https://vimeo.com/660441967/db0c903bdc?share=copy

Perfect Sense (short piece)

https://vimeo.com/830491627/1336b96d05?share=copy

Twilight Blues (trailer)

https://youtu.be/eRMnaVAvffU?si=GELHJMVTmGlksvyj

Beast in love (trailer)

https://youtu.be/6Y5lFJrd4uA

Beware What Child Tastes (Kasija’s experimental movie)

https://youtu.be/Q3GP6LP_I0o

Keep an eye on the girl (trailer of kasija’s experimental movie)

https://youtu.be/JY-gHLy57JE

Too late to die young (Ivan’s piece form 2018, trailer)

https://vimeo.com/273516735?share=copy

Author: Mona May

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