ein Portrait von Mona May
Und schon wieder darf ich euch im Rahmen von Goethe ist tot – wir leben eine Künstlerin vorstellen, die ihr Leben ganz und gar dem Tanz verschrieben hat. Das ist mir insofern eine besonders große Freude, da der Zeitgenössische Tanz – daran hat sich bedauerlicherweise in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten kaum etwas geändert – hierzulande nach wie vor das Leben eines ungeliebten Stiefkindes führt.
Es ist also höchste Zeit, dass wir ihn aus seinem Schattendasein befreien und ihm den Raum zugestehen, denn er für seine Entfaltung und Entwicklung benötigt, um gleichberechtigt neben seinen großen Kunst-Geschwistern existieren zu können. Wobei es ja vielmehr um ein Miteinander, um ein Austauschen, um Befruchtung und Inspiration geht, als um ein Nebeneinander. Denn welche Kunstform würde sich besser dazu eignen, die Interdisziplinarität der Künste zu zelebrieren, als der Tanz?
Nun aber zu der, am 11.12.1989 in Graz (AT) geborenen und lebenden Tänzerin und Choreografin Ursula Graber, die zum Einen eine wahre Puristin des Zeitgenössischen Tanzes ist und zum Anderen mit einer unbändigen Freude am Experimentieren und Erforschen ausgestattet ist. Dabei nähert sie sich mit unprätentiöser Geste den Inhalten und Themen, die ihr Interesse geweckt haben, und formt diese dann zu einem vielschichtigen „Tanzwerk“. Ihre Performances sprühen vor erfrischender Natürlichkeit, die Tanz-Skills, samt einer perfekten Tanztechnik werden grandios beherrscht.
Leichtigkeit mit Tiefe
Wobei es Ursula Graber nicht um einen akademischen Perfektionismus an sich, sondern um die Lebendigkeit und Leichtigkeit im Tanz geht. Und das ist zu sehen, alleine wenn man ihre kleinen Videos mit ihren Tanzimprovisationen auf YouTube ansieht – so viel spielerische Unbekümmertheit und Neugierde ist mir selten bei einer Tänzerin begegnet. Diese Freude und Lust stehen freilich in einem starken Kontrast zu den Inhalten, denen sie sich mutig und couragiert in ihren Bühnenwerken und Performances zuwendet. Feminismus versus Körperkult, öffentlicher Raum versus intimer-privater Raum, sind die durchaus gängigen Themen, derer sie sich annimmt.
Die gesellschaftliche und dadurch inhaltliche Gebundenheit von öffentlichen Orten zu erspüren und sich deren inhaltlicher Vorgaben auszusetzen, um sich in ihnen zu spiegeln und ihnen gleichzeitig diese Spiegelung vorzuhalten, das ist wohl einer der Zugänge, den Ursula Graber gewählt hat. In ihrer Gruppenperformance „Sternschnuppen und Kometen“ führt sie uns das sehr deutlich vor Augen: Die Passanten bzw. die Rezipienten finden sich während der Performance quasi in dieser Spiegelung wider, wodurch Metaebenen entstehen können, die keinen moralischen Anspruch erheben und dennoch oder gerade deswegen, sehr berühren. Die chorischen Elemente der Gruppe, die sie benutzt und das Spiel mit der Zeit, unterstützen diesen Vorgang. Durch die Betrachtung von ungeschminkter und unverzierter Bewegung im öffentlichen Raum, wird ein in Kontakt, ein in Berührung kommen mit sich selbst, möglich,
Mir scheint, sie sucht ganz bewusst besonders herausfordernde örtliche oder thematische Gegebenheiten auf, um sie auszuloten und sich in ihnen als Mensch zu präsentieren. Aber nein, stopp, da muss ich mir jetzt selbst widersprechen, denn sie präsentiert sich nicht, sie zeigt sich vielmehr als Mensch – bewegt sich unter Menschen und wirkt dabei wie du und ich. Und das alles mit einem Augenzwinkern und mit einem ausgeprägten Sinn für schrägen Humor, den sie meisterlich einzusetzen versteht. Die üblichen Attitüden und der oft extreme Leistungsdruck eines harten Tänzerinnenlebens scheinen ihr fremd zu sein.
Und noch einen Eindruck habe ich gewinnen können, während ich mich mit Ursula Grabers Person und Arbeit beschäftigte: Sie schöpft aus einer intensiven Eigenbetrachtung und Selbstbeobachtung, die bei ihr kein platter und damit selbstverliebter Selbstzweck sind, sondern ihre sehr ausgeprägte Fähigkeit zu einer äußerst differenzierten Wahrnehmung und Selbstreflexion zeigen. Das ist auch sicher der Grund, warum sie nicht in einem narzisstischen Geplänkel der Selbstbetrachtung und Eitelkeiten steckenbleibt.
Es ist also keinesfalls verwunderlich, wenn sie über sich selbst sagt: „Ich bin allem voran ein Mensch, den verschiedene Dinge bewegen, ein Mensch mit Gefühlen und Bedürfnissen und einem – so hoffe ich – großen Herzen. Danach bin ich Künstlerin und Tänzerin. Ich tue das, was ich tue, weil ich es als das Sinnvollste erachte, das ich tun kann. In einem „normalen“ Job wäre ich nicht so glücklich, weil mir die Selbstverwirklichung und das Lernen wahnsinnig wichtig sind. Ein anderer, ganz banaler Grund, warum ich tanze, ist: Durch die Bewegung geht es mir gut, körperlich und psychisch. Und natürlich zieht mich die Magie, die bei einer Performance entsteht an.”
Ja, ihr Tanz kommt von innen, vom Hineinspüren und Fühlen und tritt mit der geballten Lust an der eigenen Bewegung zutage und das ist sehr ansteckend. Und das macht ihren Tanz und ihre Performances schlussendlich zu etwas ganz Besonderem. Denn Tanz der pur und echt ist, der sich zudem an die heiklen Themen des Menschseins und des Lebens heranwagt, der dabei ohne Schnörkel und schmückendes Beiwerk auskommt, macht einfach Lust auf mehr.
Nun will ich aber Ursula Graber selbst zu Wort kommen lassen und hier ist auch schon meine erste Frage an sie:
Mona May: Ich habe ja jetzt schon einige Vermutungen und Beobachtungen über dich als Tanzkünstlerin in den Raum gestellt, kannst du uns sagen, kannst du uns nun erzählen, wie du arbeitest, wie deine Tanzstücke entstehen, und was deine Motive sind und auch mit welchen Materialien du bevorzugt arbeitest?
Ursula Graber: Nun, ich würde sagen, ich arbeite sehr strukturiert. Ich bin Künstlerin und Managerin in einem. Dadurch, dass ich mich selbst manage, gibt es viel Organisationsarbeit zu erledigen, aber das gehört dazu und das will ich auch so. Meine Ideen für eine Performance stammen immer aus Themen, die mich sehr beschäftigen oder die mir sehr nahe gehen oder zu denen ich brennende Fragen habe. Am Beginn einer Arbeit stelle ich mir die Fragen, was ist gerade nahe an meinem Herzen? Was interessiert und bewegt mich wirklich? Wo brennt innerlich gerade ein Feuer? Der Ausgangspunkt zu einer Performance ist also meist das, was mich selbst gerade sehr beschäftigt oder das, was ich in mein Leben integrieren möchte oder auch das, von dem ich das Gefühl habe, es fehle mir oder ich vermisse es.
All diese Themen nehme ich und bearbeite sie mittels Bewegungen und mache sie für mich körperlich erfahrbar. Wenn ich mich für ein Thema entschieden habe, verpacke ich es in ein Konzept, das ist zuerst einmal Schreibarbeit. Ich finde den Versuch meine verschwommenen Ideen erstmals klar und präzise aufs Papier zu bringen interessant und wichtig. Allerdings habe ich manchmal das Gefühl, dass es mir mit dem Körper wesentlich leichter gelingt, mich auszudrücken, als verbal.
Wenn dann die Probenzeit beginnt, gehe ich mit ein paar konkreten Ideen, die ich ausprobieren will, ins Studio. Dabei ist mir ganz wichtig, dass ich nicht vorauseilend urteile, sondern ganz im Probieren, Experimentieren, Forschen und Entdecken bleibe. Und ich schaue, wie ich meinen Körper nutzen kann, um an das Thema heranzukommen. Ich folge seinen Bewegungen, seinem Tanz, arbeite mit oder ohne Musik oder bin einfach nur da. Einfach nur Dasein, das ist etwas Wunderbares oder ich verharre in einem bestimmten Zustand, in dem ich gerade bin.
Ich bin der Meinung, dass ich das, was ich tue, wenn ich mich verändern und wachsen will, zuerst verkörpern können muss, bevor ich es überhaupt verbalisieren oder erklären kann. Deswegen arbeite ich auch mit dem Körper am allerliebsten. Der Körper hat eine eigene Art von Intuition und Intelligenz und oft empfinde ich, dass er viel mehr weiß, als ich.
Im Prozess des Kreierens treffen mehrere Ebenen aufeinander, so probiere ich Verschiedenes aus, entwickle diejenigen Ideen weiter, die mir interessant erscheinen und schmeiße andere in die „Mülltonne“. Ich mache viele Notizen und frage mich immer wieder, warum ich etwas Konkretes mache und lese Bücher zum Thema, die mir als Inspirationsquelle dienen.
Oft filme ich den Probenprozess auch mit, vor allem, wenn ich alleine arbeite, obwohl ich es sehr schätze, wenn ich Mentorinnen oder Begleitungen habe, denen ich vertrauen und die ich in gewisser Weise vielleicht sogar bewundern kann.
Die Inhalte meiner Stücke sind sehr unterschiedlich, da gab es in den letzten Jahren zum Beispiel ein Solo über einen süditalienischen Clown, dann ein Quartett, das sich mit den Themen des Zusammenseins und Lebens und den damit verbundenen Eigenschaften von Ritualen und Trance beschäftigte. Es kann auch sein, dass ein Thema gerade so präsent ist, dass es sich mir aufdrängt. Das war vor einigen Jahren so, als ich knapp an einem Burn-out vorbei geschlittert bin. Ein Begleitsymptom von Burn-out können Depressionen sein, aber ich habe zum Glück noch rechtzeitig die Kurve gekratzt, indem ich gesagt habe, wenn du schon da bist, du Depression du, dann kommst du jetzt mit mir auf die Bühne. Meine ganzen emotionalen Zustände wurden, während der Proben bearbeitet. Das Resultat war eine sehr dunkle, verstörende Performance, aber mein unverwüstlicher Humor brach auch wieder durch.
Dieses Jahr erarbeitete ich eine Performance mit den Themen Feminismus und Burlesque Tanz. Mein nächstes Projekt wird wieder in die Richtung Feminismus gehen, denn mich interessieren im Moment alle Fragen rund um das Frausein sehr. Ich bin jetzt Anfang dreißig und denke viel darüber nach, wann und ob ich Kinder haben will und auch über die vielen Rollen, die Frauen in der Gesellschaft freiwillig oder unfreiwillig einnehmen. Da gibt es für mich im Moment einiges zu entdecken, sodass es sich sicher lohnt an diesem Thema etwas länger dranzubleiben.
Eine ganz wichtige Zutat meiner Performances ist der Humor. Ich liebe es zu lachen und habe anscheinend auch das Talent, andere zum Lachen zu bringen – zumindest wird mir das immer wieder gesagt. Dieses Talent möchte ich in den nächsten Jahren unbedingt noch ausbauen.
In Bezug auf Materialen, na ja, ich liebe es, Dinge zweck zu entfremden. Mit einem einzigen Objekt kann man so viel machen und ich mag es, wenn sich die Funktion eines Objektes ändert. Aber generell arbeite ich eher minimalistisch, wobei mir die Musik, das Kostüm und das Licht als Gestaltungsmittel genügen. In der Welt einer Tänzerin gibt es ja auch noch das Bewegungsmaterial und da habe ich am liebsten offene Bewegungs-Scores, das heißt ich folge bestimmten Prinzipien und Richtlinien und der Rest wird frei improvisiert. Je genauer und vielfältiger diese Richtlinien sind und je mehr sie sich widersprechen, umso interessanter ist die Herausforderung und das, was entsteht. Ich liebe es, wenn mein Hirn so überfordert ist, dass mein Körper die Lösung findet und dadurch viel komplexere und kreativere Bewegungen möglich werden.
MM: Kannst du uns in wenigen Sätzen sagen, was es für dich bedeutet Tanzschaffende und Performerin zu sein?
UG: Das Tanzschaffen ist für mich Leben und Magie zugleich, dadurch kann ich die Fragen erforschen, die mich beschäftigen, kann experimentieren und mich selbst herausfordern, woran ich wachsen kann. Egoistischerweise mache ich das für mich, damit ICH etwas entdecken kann und weil es richtig Spaß macht. Wenn das Endresultat – eine Performance – dann auch noch dem Publikum etwas gibt, freue ich mich natürlich umso mehr. Und natürlich ist einer meiner Beweggründe auch, die Leute zu berühren und ihnen ein Stück Magie zu schenken.
MM: Neugierig auf ihren Werdegang geworden, frage ich sie: Wann und wie hast du bemerkt, dass es dich zur Kunst zieht, speziell zum Tanz?
UG: Ich erinnere mich an ein Konzert in der Volksschule, bei welchem ich gespannt einem Posaunisten zusah. Ich war so fasziniert von diesem seltsamen Instrument und wie die Bewegungen der Posaune hin- und hergingen. In dieser, für den Musiker „alltäglichen Bewegung“, lag für mich ein magischer Zauber. Dann führten wir den „Neandertaler-Rap“ in der Volksschule auf, ein rhythmisches Spiel mit allen möglichen Neandertalernamen. Diese rhythmische Mischung aus klatschen, rappen und sprechen und die Magie, die dadurch entstand, genoss ich sehr. Für mich war das großartig und ich dachte, dass das alle so empfinden würden.
Später, im Musikgymnasium, gingen wir mit unserer Deutschlehrerin in das Schauspielhaus. Mich faszinierte jedes Detail auf der Bühne. Wenn ich eine Bühne sehe, entwickle ich eine Art spontane Neugier und sauge alles auf, was da passiert. Da werden meine Augen groß und ich beobachte jedes Detail, weil alles spannend ist. Was mich von Anfang an beim Tanzen am meisten faszinierte war, das Entschlüsseln, Lernen und Entdecken von koordinativ herausfordernden Bewegungen. Das gefällt mir bis heute sehr gut: neue Bewegungen lernen und herausfinden, was ich mit und in meinem Körper tun muss, damit es klappt.
MM: Wie verlief dann deine Ausbildung zur Tänzerin und Performerin, hattest du Vorbilder oder Lehrer_innen, die dich prägten?
UG: Ich habe an der Anton Bruckner Uni in Linz (A) zeitgenössischen Bühnentanz und Tanzpädagogik studiert und dort auch den Master angefangen, aber nach zwei Jahren abgebrochen, weil der Drang, mich selbst zu verwirklichen so stark war und ich nach zehn Jahren Studium an verschiedenen Universitäten, etwas anderes brauchte. Ich war dann an der Manufacture in Lausanne (CH), die mich sehr geprägt hat. Die dortige zeitgenössische Tanzausbildung – mit Fokus auf Creation – hat einen sehr modernen pädagogischen Ansatz. Die Lehrenden sind tolle Menschen und großartige Künstler_innen. Die wichtigste Botschaft, die ich von dort mitgenommen habe, ist: „Mache, was du willst und tue das, was nahe an deinem Herzen ist.“, egal, ob es dann im Endeffekt etwas mit Tanz zu tun hat oder nicht.
Meine größten Vorbilder lernte ich fast alle in der Manufacture in Lausanne kennen. Zu meinen Vorbildern zählen Thomas Hauert, der ein toller Mensch und total bescheiden ist. Seine Tools für Improvisation sind großartig, Gabriel Schenker, ebenso ein toller Mensch, Tänzer, Philosoph und Anthropologe, Zoe Polluch, sie ist eine super Powerfrau, macht tolle spartenübergreifende Projekte, Mette Ingvartsen, noch so eine superstarke Frau, ich mag ihre schlichte und doch bombastische Klarheit, Marlene Monteiro Freitas, sie ist einfach nur verrückt und ich liebe es so sehr! Koko la Douce, sie ist ein Mensch mit einem riesengroßem Herzen und voller Lebenslust und Liebe. Und dann ist da noch Fabrice Mazliah, sein Interesse für die unterschiedlichsten Dinge ist grenzenlos, von ihm habe ich gelernt, wie wichtig es ist, sich für etwas wirklich zu interessieren. Aber natürlich inspirieren mich auch große Künstler, wie David Zambrano und Frey Faust und ihr Zugang zum Tanz, enorm.
MM: Kannst du von der Tanzkunst leben? Wie gestaltet sich deine Einkommenssituation, gibst du zusätzlich Tanzunterricht oder gehst du einem anderen Job nach, um überleben zu können?
UG: Ja, ich lebe von meiner Kunst. Aber ich bin erst seit Anfang 2020 selbstständig und kann daher noch nicht von vielen Erfahrungen sprechen, vor allem, weil ja in diesem Jahr, durch die Corona-Krise, vieles anders lief, als erwartet. Ich bin sehr dankbar, dass ich ein Jahr zuvor, das Startstipendium für darstellende Kunst des österreichischen Bundesministeriums für EU, Kunst, Kultur und Medien 2019, gewonnen habe, ein Geld- und Anerkennungspreis, der wirklich eine tolle Auszeichnung ist und mir einiges erleichtert hat..
Und ja, ich gebe auch Tanzunterricht, aber der Hauptgrund ist nicht, dass es Geld bringt, sondern weil ich entdeckt habe, dass es mir großen Spaß macht. Mein Fokus liegt aber am Kreieren von Tanzperformances. Einen anderen Job habe ich nicht.
Ich finde es sehr mühsam, dass in der Kunst- und Kulturszene oft davon gesprochen wird, wie schwer und unmöglich alles sei. Das finde ich extrem runterziehend. Ja, es muss viel verbessert werden, aber ich suche lieber nach Lösungen, anstatt zu „jammern“. Die Menschen in deiner Umgebung beeinflussen dich sehr, und wenn dir alle vermitteln, dass es ohnehin unmöglich ist, von der Kunst zu leben, dann sind die Chancen sehr groß, dass du es nicht schaffst, weil du es dir dann nicht mehr zutraust. Ich achte daher sehr darauf, dass ich mich mit Menschen umgebe, die zwar realistisch, aber positiv sind.
Wenn ich Support im künstlerischen Bereich brauche, suche ich mir den und genauso mache ich es, wenn ich Fragen in Sachen Management habe.
Mein Lieblingsspruch ist: Du musst es ausprobieren, erst dann weißt du, ob es funktioniert.
MM: Gehören für dich Kunst und soziales Engagement oder gesellschaftspolitische Themen zusammen?“
Ja, aber aus meiner Sicht ist das kein Muss. Ein reines Barockkonzert hat vielleicht keine konkrete gesellschaftspolitische Aussage, ist aber trotzdem Kunst.
In der Zeitgenössischen Kunst wählen Künstler_innen oder Tanz- und Theatertruppen oft alternative Arbeitsweisen, die „Gegenmodelle“ zu den gängigen hierarchischen Strukturen, darstellen. Ich finde, auch das ist ein gesellschaftspolitischer Akt, der zudem in den Arbeiten der Truppen sichtbar ist.
MM: Würdest du uns noch etwas über deinen familiären Background und das Milieu, in dem du aufgewachsen bist, erzählen?
Ja gerne, ich habe vier Geschwister, und bin als viertes Kind geboren. Bis zu meinem siebten Lebensjahr war ich das letzte Kind, dann erst wurde mein kleiner Bruder geboren. Es hat mich sicher sehr geprägt, für eine gewisse Zeit die Jüngste zu sein.
Wir wuchsen außerhalb von Graz, in einem Haus mit Garten auf. Die Mur war ganz in der Nähe, wo wir gerne mit dem Radl hinfuhren. Mein Vater arbeitete, meine Mutter war zu Hause. Als viertes Kind hatte ich sehr viele Freiheiten, da meine Eltern schon recht „locker“ und auch ein wenig „erschöpft“ waren. Ich war es gewohnt in Gesellschaft meiner Familie zu sein und doch mein „eigenes Ding“ zu machen. Meine Familienmitglieder sind eher ruhig und zurückhaltend, ich bin da eher die Ausnahme, denn ich konnte schon als Kind recht laut und wild sein. Ich würde mich nicht als sehr laute Person beschreiben, aber ich bin doch eher extrovertiert. Von meinem Vater, der meist mit dem Arbeiten beschäftigt war, habe ich das logische Denken und das gute Organisieren mitbekommen und von meiner Mutter, mit der ich mehr Zeit verbrachte, habe ich das Lebenslustige und Impulsive. Es waren alle sehr musikalisch in meiner Familie, jeder spielte ein Instrument und wir sangen oft. Das hat dazu beigetragen, dass die Musik ein wichtiger Bestandteil in meinem Leben und Performances ist.
MM: Also hatte deine Familie einen Zugang zur Kunst, gab oder gibt es noch andere Künstler_innen in deiner Familie, die die Kunst hauptberuflich ausüben?
Durchaus, mein Vater spielte Klarinette und meine Mutter Blockflöte und Gitarre, meine Schwester und meine Brüder spielten Klavier. Als Hobby waren viele von uns jahrelang in Chören aktiv. Meine Schwester ist heute Berufsmusikerin, schon als Kind genoss ich ihr ständiges Üben sehr, Ich mag es einfach, Musik um mich herum zu haben. Eine Tante von mir ist Keramikerin, zwei meiner Onkel sind Berufsmusiker, eine andere Tante war Tänzerin. Mein Großvater war Musiker, seine zweite Frau ebenfalls. Durch die vielen Musiker_innen in meiner Familie, ist natürlich die Musik auch für mich ein wichtiges Thema. Obwohl ich damit lange Zeit auch Druck und Leistung verband. Bis in meine frühen Zwanziger, traute ich mich nicht solistisch zu singen, vor lauter Angst bewertet zu werden. Meine Familie und meine Verwandten hatten in Bezug auf Musik sehr hohe Ansprüche, da lagen immer Erwartungen in der Luft. Und das kann sehr blockierend sein. Erst jetzt, nachdem ich jahrelang Einzelstunden in Jazz-Gesang genommen habe, traue ich mich solo frei und laut zu singen.
MM: Wie ist deine augenblickliche Lebenssituation, wie ist dein Lebensgefühl und wie soll sich dein Leben wünschenswerter Weise beruflich und privat weiterentwickeln?
Zurzeit lebe ich in Graz (AT) und in Girona (ES), weil dort mein Partner lebt. Ich bin in beiden Städten aktiv, verwirkliche dort meine Projekte und versuche mir eine solide Basis aufzubauen.
Ich bin, wie schon erwähnt, selbstständig, also offiziell ein Einzelpersonunternehmen mit SVS und allem drumherum. Ich möchte weiterhin Tanzperformances kreieren und diese an so vielen Orten, wie möglich zeigen und ich möchte auch in der internationalen Zeitgenössischen Tanz- und Performanceszene im Rahmen von Residencies und Festivals aktiv sein.
Obwohl ich gerne alleine kreiere, reizt mich das Arbeiten und Zusammenwirken in einem Kollektiv sehr, vor allem spartenübergreifendes Arbeiten. Daher würde ich liebend gerne mit Schauspieler_innen und Musiker_innen, aber auch mit Akrobaten_innen oder Sportler_innen arbeiten. Mir ist wichtig, ein unterstützendes Feld aufzubauen, ganz nach dem Motto: „Gemeinsam sind wir stärker, als alleine.“ Es ist bereichernder, sich gegenseitig zu unterstützen, als alles im Alleingang bewältigen zu müssen. Und mehrere Köpfe haben einfach viel mehr Ideen, als einer alleine. Ich suche aktiv nach unterstützenden Menschen und ignoriere die Ellbogentechniker.
Auf den Unterricht bezogen, möchte ich die Tools für Improvisation von Thomas Hauert, er ist der Leiter und Choreograf der Tanzcompany Zoo (CH/BE), nach Graz und Girona bringen. Das Tolle an seinen Tools oder Scores ist, dass sie keine Tanzerfahrung voraussetzen und alle sie auf ihrem jeweiligen Level ausführen können. Sie sind daher für Profi-Tänzer genauso spannend, wie für Bewegungs-Lover.
Privat bin jetzt mit meinem Partner seit sieben Jahren zusammen, wir sind nicht verheiratet und denken auch nicht wirklich daran. Wir haben keine Kinder, das könnte sich aber in den nächsten Jahren ändern. Wobei ich mir davor genauer ansehen will, wie sich das auf mein Leben auswirken wird und wie wir die Care-Arbeit, die Kinder nun mal mit sich bringen, mit unserer Arbeit und dem System, in dem wir leben, gut verbinden können,
Was mein Lebensgefühl betrifft, da kann ich nur sagen, dass ich glücklich und zufrieden bin, vor allem, da ich mich selbst verwirklichen kann, Ich bin voller Zuversicht, Hoffnung und Mut.
Infos:
Website: www.ursulagraber.com
Facebook: https://www.facebook.com/ursula.graber.1/
Youtube: https://www.youtube.com/channel/UCRmvfMlPp0QVOsbjl_-G_-A
Vimeo: https://vimeo.com/user35129675
Fotos: 1. Claudia Plattner/Träumerherzfotografie 2. Maximilian Wührer 3. Willi Dorner, Konstantinos Tzivanopoulos 4. Clemens Nestroy 5. Maximilian Wührer 6. Alexander Wenzel 7. Günter Macho 8. Gregory Batardon 9 Gregory Batardon 10. Alexander Wenzel 11.Gregory Batardon 12. Alexander Wenzel; 13. Clemens Nestroy; 14. Clemens Nestroy; 15. Clemens Nestroy; 16. Clemens Nestroy
Woow, eine sehr interessante Künstlerin Frau Ursula Graber und wirkt sehr ausgeglichen. Da ist wohl künftig noch viel spannendes zu erwarten ! Toi Toi Toi !