Unterwasseratmen

eine Kurzgeschichte von Mona May

Mit einem Fuß steckt er fest. Ihr Traum. Er treibt flussabwärts. Im Schlamm der Finsternis. Ihm entsteigen düstere Träume, während sich aus seinen morastigen Pfützen dunkle Vorahnungen erheben, die sich fäulnisumwittert über ihr wirres Haar legen. Die Patina der Zeit verströmt einen süßlichen Duft.

Sie schüttelt sich. Will ihren Wahnsinn abschütteln. Ihm entkommen. Doch es gibt kein Entkommen. Kein zurück in eine Zeit, die Normalität verspricht. Weitab ist das Grollen des Donners zu hören und eine unsichtbare, mächtige Hand schleudert Blitze nach ihr.

Sie zuckt zusammen. Einmal. Und noch einmal. Lauter kleine Zuckungen, die ihren Körper durchfahren. Sie will ersticken. Am Liebsten ersticken, an diesem schnöden Sein. Ein Wolkenbruch geht nieder.

Endlich. Eine erlösende, wärmende Kühle bedeckt sie. Ihr feuchtes Haar klebt ihr im Gesicht. Und dann holt sie Luft. Ganz, ganz tief saugt sie die Luft in sich ein. Bis ihr Brustkorb sich dehnt und weitet und es nicht mehr anders geht und sie wieder ausatmen muss.

Jetzt springt sie über ihren Schatten und treibt wie ein Stück Holz dahin. Im Fluss. Willenlos. Wäre sie nur nie gesprungen.

Niemand hält sie. Niemand kennt sie. Sie ist untergetaucht. Abgetaucht in eine Tiefe dort am Meeresgrund, wo kein Lichtstrahl mehr die Dunkelheit erhellt. Nur ihr Unterwasseratmen lässt blubbernde Blasen aufsteigen. Darin spiegeln sich dann die Gesichter der anderen. An der Oberfläche, die schon ganz zerkratzt ist. Wundgescheuert vom vielen Wollen der anderen.

Ich sitze ihr gegenüber. Halte ihre Hände. In ihrem Blick flackert eine Leere, die mich schaudern lässt. Sie treibt weiter dahin, Stromschnellen reißen sie mit und tragen sie immer weiter fort. Ich rede auf sie ein. Doch sie bleibt stumm. Sie treibt fort. Immer weiter fort.

Und meine Worte ersterben, noch ehe ich sie aussprechen kann. Sie bleibt stumm. Worte, die ich ihr zuflüstern will. Worte, die viel zu groß gedacht sind. Sie verhallen klanglos, als hätte die Nacht sie still in den Himmel hinausgeatmet. Ich will ihr nah sein. Für sie da sein. Ihr in ihrer Haltlosigkeit den Halt geben, der sie hält.

Etwas, muss es doch geben, das sie hält. Das sie am Leben hält und nicht immer weiter treibt, hineintreibt in ihren Wahnsinn. Fort, immer weiter fort, weg von mir. Bis ich nicht einmal mehr ihre Hände halten kann, weil sie so weit weg ist. Und der Fluss sie mir entrissen hat.

 

zur Autorin:

Mona May ist eine österreichische Kunstschaffende und Autorin, die zahlreiche Tanz- und Theaterstücke schreibt, choreografiert, performt und inszeniert. Werke von ihr sind MAHNMAHL, (h)eras:(h)aar, UXUS, Menschensplitter und viele mehr. Außerdem schreibt sie Kurzgeschichten und Lyrik.

Mona May hat auch die Kampagne Goethe ist tot – wir leben! ins Leben gerufen, die die Basis für diese Website gebildet hat. Sie veröffentlicht weiterhin Portraits von Künstlern und Künstlerinnen aller Genres auf kuenstler-leben.com

 

Author: Christian Handler

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